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Zerrissen (Arbeitstitel)

Zerrissen (Arbeitstitel) · Romane

Eine Witwe, ein Geheimnis und ein erbarmungsloser Kampf um ihre Tochter.

Was möchtest du mit dem Buch bewirken?

Aus einer philosophischen Diskussion über den Weitergang meines Lebens nach der Elternzeit ist meine erster Roman entstanden. Ich habe mir einen Traum erfüllt und ein Buch geschrieben und veröffentlicht. Mein erster Roman befasst sich mit Armut in unserer Gesellschaft und daraus ist etwas wunderbares Entstanden. Ich habe gemerkt, dass ich nicht einfach nur eine Liebesgeschichte schreiben möchte. Ich möchte Menschen mit meinen Geschichten zum Nachdenken anregen. Mir ist bei meinen Bücher wichtig, dass der Leser sich Gedanken macht, ob es hinter der Fassade, die ein Mensch nach außen zeigt nicht auch Spuren auf der Seele geben kann, die unausgesprochen sind. Oft handeln diese Menschen irrational, geben sich unnahbar oder aggressiv und werden mit einem Stempel versehen in eine Schublade gedrängt. Häufig zu unrecht. Mir ist wichtig zu sensibilisieren. Meine Leser dürfen aber auch auf ein Happy End hoffen. Das soll den Menschen Hoffnung geben. So unwahrscheinlich es auch scheinen mag, jeder Mensch ist seines Glückes Schmied und ich glaube fest dran, dass jeder mit viel Arbeit einen Weg finden kann, glücklich zu werden. Ob der Weg dann in einer "Beziehung" endet, sei mal dahingestellt, aber es gibt für jeden Menschen ein Möglichkeit Glück zu finden.

Über den/die Autor:in

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Jes Schön ist Autorin aus Leidenschaft. Nach der erfolgreichen Veröffentlichung Ihres Debütromans „Fallen“ hat sie kürzlich mit dem ersten Band ihrer neuen Roman Reihe „Lass es zu!" nachgelegt. Sie ...

Prolog

 

Der Tag ist herrlich. Die Julisonne strahlt hell und warm vom Himmel, an dem vereinzelte Schönwetterwolken auszumachen sind. Es ist nicht übertrieben heiß, das perfekte Wetter für ein leckeres Eis und einen Cappuccino.

Wir sitzen vor einer Eisdiele mit Sicht auf die Elbe, die sich träge an uns vorbeischlängelt. Das schlafende Mädchen, das im Maxi-Cosi zwischen uns steht, schert sich nicht um den köstlichen Himbeerbecher, den ich vor mir habe. Sie träumt von süßen Hasen oder kuscheligen Schäfchen und wartet auf unseren zweiten Schatz, der gleich kommen wird.

Meine Schwester und ich haben innerhalb eines Monats zwei gesunde Töchter geboren. Jedermann vermutet einen Zufall. Sophia und ich wissen es besser. Wir wurden zur gleichen Zeit vom selben Mann geschwängert. Im Gegensatz zu ihr weiß ich, dass er es darauf angelegt hat, in der Annahme, mich demütigen zu können. Von dem Verhältnis zwischen meinem Zwilling und meinem Mann wusste ich, bevor es begonnen hatte.

Sie hatte ihn vor mir kennengelernt. Die beiden hatten sich bei einer Vernissage getroffen. Mit einer List hatte meine in puncto Männer zimperliche Schwester ihn in ein Date zu dritt gelockt und mich genötigt, sie zu begleiten.

An diesem Abend habe ich den charismatischen Geschäftsführer kennengelernt, der mich mit seinem Charme um den Finger gewickelt hat. Um ihre Gefühle nicht zu verletzen, habe ich mich zurückgezogen, Sven indes war hartnäckig und hat mit allen Mitteln um mich gebuhlt. Sophia hat erkannt, dass unvermittelt ich es war, die er begehrte und klaglos das Feld geräumt.

Vor die Wahl gestellt, wem von uns die Position der Ehefrau und wem die der Geliebten zuteilwerden sollte, habe ich aus bedingungsloser Geschwisterliebe die der Ehefrau gewählt. Sie ist zu zerbrechlich für die Wahrheit und wird nie erfahren, warum ich ihr die Rolle der Geliebten zugedacht habe.

 

„Da ist er. Ich hol eben meinen Zwerg.“ Sophia deutet auf den schwarzen Geländewagen mit den getönten Scheiben, der auf der anderen Straßenseite geparkt hat. Mein Mann hat seine zweite Tochter bei seinen Eltern abgeholt und bringt Charlotte zu ihrer Mutter zurück.

Mit Freude überlasse ich ihr diesen, für sie kostbaren, Moment mit ihm. Sie würde nie zugeben, neidisch auf meine Privilegien als Gattin zu sein. Ihre Treffen finden ausschließlich im Verborgenen statt und aufgrund seines vollen Kalenders sind die Zeitfenster für seine Geliebte, rar gesät. Würde ich sie nicht in Gefahr bringen, würde ich ihr zuliebe gänzlich auf Kontakt zu ihm verzichten.

„Geh, ich sehe ihn später“, rufe ich ihrer davoneilenden Kehrseite zu, nicht sicher, ob sie mich gehört hat.

Für ein paar Sekunden hält sie an der Straße inne, prüft, dass frei ist und geht auf den Wagen zu. Die Scheibe fährt herab und ein pechschwarzer Schopf erscheint. Galant lächelnd sagt er etwas. Meine Schwester versteift sich und schüttelt schüchtern den Kopf. Er erwidert etwas. Mit einem zögerlichen Schritt nach vorne, beugt sie sich ins Fenster und wird mit einem besitzergreifenden Kuss begrüßt. Ein Kuss, der demonstrativ an mich adressiert ist und mich gefügig halten soll.

Emotionslos erfasse ich all das durch die dunklen Gläser meiner Sonnenbrille und nippe an meinem Cappuccino. Jede andere wäre ausgeflippt, hätte Zetermordio geschrien oder sie an den Pranger gestellt. Für mich bedeuten ihre Zusammenkünfte Sicherheit. Sie liebt ihn aufrichtig und ich gönne ihr das heimliche Glück. Sein Gebaren ist reine Inszenierung für mich und lässt mich auf emotionaler Ebene völlig kalt.

Es dauert, bis er von ihr ablässt. Mit einem entschuldigenden Blick in meine Richtung geht sie um den Wagen herum. Statt den Maxi-Cosi von der Rückbank zu schnallen, steigt sie auf der Beifahrerseite ein.

Ihre Qual ist für mich unerträglich. Egal wie oft ich ihr erkläre, dass dieses Arrangement mein Einverständnis hat, sie glaubt mir nicht.

Natürlich nicht! Welcher liebende Angehörige würde diese Ménage-à-trois in Erwägung ziehen? Häufig hat sie einen Schlussstrich gezogen. Diese Phasen waren für mich auf mannigfaltige Weise unerträglich und es bedurfte meiner Intervention, damit sie das Verhältnis zu ihm erneut aufnahm. Inzwischen hat sie sich mit der Dreiecksbeziehung abgefunden und akzeptiert zähneknirschend, dass wir uns den Mann teilen.

Von diesem Arrangement darf nichts an die Öffentlichkeit dringen. Nach außen hin spielen wir unsere Rollen, die der Gattin und die der Schwägerin. Wir sind eineiige Zwillinge und kaum einer hätte erkannt, dass nicht ich es war, die in den Wagen gestiegen ist. Wollen wir für die andere durchgehen, täuschen wir jeden. Die Einzige, die uns auseinanderhalten kann, ist Sophias beste Freundin Christina. Eingeweiht in unser skurriles Doppelleben, das ihr nicht behagt, schweigt sie bei unseren Täuschungen wie ein Grab.

Aus dem Maxi-Cosi zu meinen Füßen kommt ein mürrischer Laut.

Sie sitzen im Wagen und ich rätsle, was sie zu besprechen haben. Mein Baby wird quengeliger und ich beuge mich nach unten, um sie zu befreien.

Beim Lösen der Schnalle ertönen ein markerschütterndes Hupen und das schrille Quietschen von abbremsenden Rädern. Erschrocken halte ich der Kleinen die Ohren zu.

In diesem Moment überschlagen sich die Ereignisse. Erst sehe ich den parkenden schwarzen SUV. Es folgt ein lauter Knall, einhergehend mit gewaltigem Knirschen und Krachen. An der Position, wo der Geländewagen mit den getönten Scheiben stand, steht ein 40-Tonner. Meine Welt bleibt stehen, mein Gehirn schaltet ab und ich beginne zu schreien.

 

 

1. Kapitel

 

4 Jahre später

 

Es gibt Phasen im Leben, in denen man jemanden an seiner Seite braucht. Sei es, um eine Schulter zu haben, die die Last mit einem trägt oder um starke Arme um sich zu spüren, die sich mit einem freuen. Und es gibt Phasen, die ohne einen Menschen, der einen festhält, nicht zu überstehen sind.

Der vierte Todestag meiner Schwester und meiner Nichte verlangt diese zwischenmenschliche Unterstützung.

Im Büro war ich abgelenkt und hatte keine Zeit, mich mit dem, was unaufhaltsam auf mich zurollt, auseinanderzusetzen. Irgendwann holt es einen ein. Der unpassende Moment ist symptomatisch für mich. Ich sollte Karma in Betracht ziehen und an meiner Bilanz arbeiten.

Ich sitze am Bett meiner viereinhalbjährigen Tochter und lese ihr eine Geschichte vor. Eine Spanne, die uns gehört und das Kinderzimmer ist für gewöhnlich Smartphone-Sperrzone. An diesem Abend steckt es in der Tasche meiner feinen Stoffhose. Ein kurzer Signalton ertönt mit einer Vibration am Oberschenkel und lässt meine Stimme stolpern. Elena registriert das nicht. Sie ist begierig darauf zu erfahren, wohin der Ausflug des schusseligen Tim geht, der mit seinem Skateboard durch die Welt rollt.

Nach dem Läuten kann ich mich kaum auf die Buchstaben vor mir konzentrieren. Mir wird bewusst, welches Datum morgen ist und ich werde fahrig. Ein winziger Ton genügt, um mich aus der Balance zu bringen. Eilends lese ich das Märchen zu Ende und gebe ihr ein Küsschen.

Nach dem Schließen der Tür rutsche ich ausgelaugt daran zu Boden. Die Bilder von jenem Nachmittag strömen auf mich ein und ich bin gefangen in meinem persönlichen Horrortrip.

Später schleppe ich mich in mein Schlafzimmer und sacke auf meinem Bett zusammen. Ich weine um den frühen Tod meiner Nichte und meiner Schwester, weine um ihr zu kurzes Leben und um alles, was wir hätten haben können, wären die Dinge anders gelaufen.

Seit dem schrecklichen Unfall ist keine freie Minute vergangen, an der ich nicht mit den Tränen zu kämpfen hatte. Nach einem Stadium der Verleugnung kam eine ausgedehnte Periode aus Frustration und Trauer. Inzwischen stecke ich in einer Phase der Akzeptanz und füge mich allmählich in die neuen Gegebenheiten ein. Hauptsache, ich bin abgelenkt.

Um meiner Tochter Willen musste ich unzählige Unwägbarkeiten tolerieren und habe gelernt, ein Dasein zu leben, das mir nicht behagt, mit dem ich mich aber arrangieren kann.

Zur Entspannung schäle ich mich aus meiner Businesskleidung und steige unter die Dusche. Es ist gerade acht Uhr. Ich werde Christina, die mich unwissentlich mit ihrer Nachricht aus der Bahn geworfen hat, nach der Dusche anrufen. Was musste ich ihr auch einen separaten Rufton zuordnen.

Sie war und ist mir eine große Stütze. Seit dem Kindergarten war sie die beste Freundin meiner Schwester und hat mir in den ersten Wochen nach dem Unfall rund um die Uhr beigestanden, obwohl sie selbst getrauert hat. Vorher waren wir lose miteinander bekannt, seither sind wir enge Vertraute. Die Beziehung zwischen ihr und mir ist der zu Sophia ebenbürtig. Wir haben keine Geheimnisse und im Laufe der Zeit spezielle Rituale entwickelt, die vor allem mir bei kritischen Ereignissen helfen, sie zu überstehen.

Es ist grauenvoll, den eigenen Geburtstag zu begehen, ist der Zwilling, der einen neunundzwanzig Jahre begleitet hat, verstorben. Oder Weihnachten, Ostern … und den Tag, der die wichtigsten Menschen aus meiner Mitte gerissen hat.

Antriebslos lese ich die Nachricht, die sie mir auf mein Smartphone geschickt hat. Sie hätte um diese Zeit nicht geschrieben, wäre alles wie immer.

 

Ruf mich an. LG C.

 

Notgedrungen baue ich die Verbindung auf. Die Geschwindigkeit, mit der sie abhebt, erinnert an ein flinkes Wiesel.

„Hey, wie gehts dir?“, fragt sie wachsam. Im Gegensatz zu mir hat sie ihren Verlust bewältigt. Sie schaut nach vorne und bedrängt mich nicht mit schlauen Sprüchen a la Das Leben geht weiter oder Sie hätte gewollt, dass du dein Leben lebst.

„Beschissen. Sollte ich deswegen anrufen? Oder kannst du nicht?“, erkundige ich mich zaghaft. Versetzt sie mich morgen, bin ich geliefert.

„Natürlich. Ich muss allerdings zwischen zwölf und zwei zur Uni. Es ist die letzte Vorlesung vor dem Praxissemester und wir haben Anwesenheitspflicht.“ Sie klingt zerknirscht. Ich weiß, wie wichtig diese Vorlesung für sie ist. Wie ich die Wartezeit überbrücken soll, ist mir schleierhaft.

Christina ist mit neunundzwanzig vier Jahre jünger wie[JS1]  wir Zwillinge und liegt auf der Zielgeraden ihres BWL-Studiums. Sie hatte ihr Studium schleifen lassen und es sich zur Aufgabe gemacht, mich in meiner Trauer zu begleiten. Es ist an mir, sie zu unterstützen, zu einem Ende zu kommen. Zu lange hat sie ihre eigenen Bedürfnisse auf Eis gelegt.

„Willst du nicht allein bleiben, könntest du mitkommen. An der Uni kennst du dich bestens aus“, schlägt sie vor.

„Meinst du, ich kann etwas Neues lernen?“, frage ich schelmisch und ernte ein vergnügtes Lachen.

„Zweifellos nichts von Belang. Vielleicht kann dir einer verraten, wo du Joints rauchen kannst. Du warst während deines Studiums schon eine Spaßbremse.“

Mein Studium an der Uni scheint ein Äon her zu sein und im Grunde ist es das. Mit siebenundzwanzig habe ich meinen Master in BWL mit Auszeichnung absolviert, um anschließend die brave Gemahlin zu mimen. Sven fand es erstrebenswert, mich durchs Studium zu prügeln. Nach dem Abschluss war es irrelevant. Er hat nicht in Erwägung gezogen, mich arbeiten zu lassen. Nicht mich, seine Gattin. Im Nachhinein hat es sich gelohnt. Nach seinem Tod hat er Türen geöffnet, die mir verwehrt werden sollten.

„Ich bin mir unschlüssig, ob unser Umgang mit dir sinnvoll ist … Seit wann interessierst du dich für Joints?“, frage ich halb im Spaß, halb im Ernst. Ihr Spruch irritiert mich. Sie ist kein Typ, der Drogen einwirft.

„Das war Spaß und er war deplatziert. Vergiss es. Was ist mit morgen? Nach der Kita Frühstück? Gehst du mit an die Uni oder muss ich mir ein anderes Programm für dich überlegen?“

Unentschlossen bestätige ich, sie zur Uni zu begleiten. Entweder kann ich kurzfristig mit einer Ausrede aufwarten oder nach sechs Jahren Abstinenz einer Vorlesung beiwohnen. Wer weiß, wozu es gut ist?

Wir verabschieden uns und ich bleibe erschöpft liegen. Mich erwartet eine schlaflose Nacht. In den Schlaf zu finden, ist das Mindeste, was ich wagen sollte.

 

 

2. Kapitel

 

Der Geruch in einem großen, öffentlichen Gebäude, in dem sich massenhaft Leute tummeln, ist überall identisch. Muffig, mit einer Nuance Reinigungsmittel, Staub und Papier.

Die Uni zu betreten, fühlt sich an wie ein Zeitsprung. Ich erinnere mich gerne an meine ersten Semester. Der Campus und die verschiedenen Hörsäle sind mir nicht minder geläufig wie die kunterbunten Grüppchen von Studenten. Keinen von ihnen kenne ich, ihr Gebaren ist mir dennoch vertraut. Neu sind die Notebooktaschen. Ein Trend, der zum Ende meines Studiums eingesetzt hat.

In ihrer Mitte falle ich auf. Mit einer bequemen Jeans, einem legeren T-Shirt und der obligatorischen Strickjacke ist nichts von der durchsetzungsfähigen Managerin im feinen Kostüm übrig, die ich für gewöhnlich darstelle. Es ist hauptsächlich das Alter, das mich von den anderen abhebt. Christina ist durch ihre Bummelsemester eine der Älteren und ich habe ein paar Lenze mehr auf dem Buckel. Die Abwesenheit von Lehrmaterialien trägt zusätzlich dazu bei, dass ich nicht im Entferntesten wie eine Studentin ausschaue. Über meine Schulter hängt lediglich eine elegante, schwarze Clutch.

„Hi“, begrüßt Christina ihre Kommilitonen. „Das ist meine Lerngruppe. Marcus, Petra, Ira und Sprotty“, sagt sie an mich gewandt und deutet nacheinander auf die jungen Leute. „Das ist Twinny, seid nett zu ihr.“

Allen begrüßen mich mit einem fröhlichen Hallo, das ich lächelnd erwidere. Keiner erkennt mich, ich bin einfach ihre Freundin Twinny. Zu meiner Verwunderung gehen sie unbefangen mit mir um und beziehen mich nahtlos mit ein.

Auf der Zielgeraden des Studiums strahlt die Gruppe großen Enthusiasmus aus. Nach dem anstehenden Praxissemester folgt ein Prüfungssemester und dann haben sie ihren Bachelor. Christina wird ihr Praxissemester in meiner Firma durchlaufen und kann nach dem Studium bei uns anfangen. Im Grunde könnte sie das sofort, denn ich weiß, was sie kann. Sie braucht den Abschluss für ihren Seelenfrieden und um ihrem Selbstbewusstsein einen Kick zu verschaffen.

Ich will mich absetzen, damit die anderen in ihre Vorlesung gehen können, habe allerdings nicht mit der Hartnäckigkeit von Sprotty, dem schrägsten ihrer Kommilitonen, gerechnet. Er hat den Kopf voll verfilzter Dreadlocks in allen Farben des Regenbogens und seine Kleidung könnte einer Lumpensammlung entstammen.

Wir sind in ein Fachgespräch über das Vorlesungsthema Unternehmenssteuerung verstrickt und es bereitet mir große Freude, mit ihm das Für und Wider seiner Ansichten zu erörtern. Hinter seinem markanten Äußeren verbirgt sich ein hochintelligenter BWL-Student. Im Verlauf unserer Unterhaltung lotst er mich unbewusst in den Hörsaal. Bis ich realisiere, wo wir sind, fläzen die anderen sich schon in die hinterste Reihe. „Ich sollte den Saal verlassen und draußen warten“, wende ich ein.

Die Tür fliegt ins Schloss und der Dozent tritt ein.

„Zu spät.“ Sprotty grinst mich belustigt an. „Willst du dir keinen Rüffel einfangen, weil du die Vorlesung störst, musst du seinen Ausführungen lauschen.“

Christina wirft mir einen amüsierten Blick zu. Sie kennt mich und weiß, dass ich nicht hier sein will.

 

Die Vorlesung ist abwechslungsreich, denn nicht nur der Inhalt ist interessant. Professor Steinhauser ist überaus dynamisch und weiß sein Publikum zu begeistern. Er ist selbstironisch und zudem enorm versiert in der Motivation seiner Studenten. In keiner meiner Vorlesungen habe ich gelacht, geschweige denn in dieser Fülle. Christina schwärmt oft von ihm. Sein Können live zu erleben, lässt mich ihre Lobeshymnen absolut nachvollziehen.

Insgeheim hatte ich erwogen, sie hätte sich in ihn verliebt. Nachdem ich der Vorlesung beigewohnt habe, kann ich die romantische Natur ihrer Schwärmerei ausschließen. Einen Dozenten wie ihn hätte ich mir auch gewünscht.

Nach der Vorlesung leert sich der Hörsaal. Unser Grüppchen bleibt eisern sitzen. Christina bittet mich um Geduld.

„Wir müssen mit Steini quatschen.“ Sie deutet auf eine beachtliche Traube Studenten, die sich um das Rednerpult scharen und ich stelle mich auf eine längere Warterei ein.

Auf der anderen Seite haben wir keinen fixen Termin. Wir wollten uns ablenken, um nicht in unserer Trauer zu versinken. Das können wir überall machen.

Die Gruppe um den Professor wird kleiner. Die Fünf springen auf und schleifen mich mit sich. Wir steigen die Stufen nach unten und ich lasse mich auf einem Platz in ihrer Nähe nieder. Ich werde warten, bis sie ihre Probleme diskutiert haben.

Anschließend setzen wir uns ab. Wir wollen zum Klettern in den Kletterwald.

Während die fünf mit ihrem Hochschullehrer sprechen, betrachte ich ihn genauer. Mit Mitte bis Ende dreißig gehört er zu den Jüngeren seiner Zunft. Sein Auftreten bei der Vorlesung und umringt von seinen Studenten, lässt auf einen älteren Kommilitonen denn auf den Dozenten schließen. Er ist ständig am Lachen und erweckt den Anschein, er würde nichts wirklich ernst nehmen. Der bange Blick, den er Sprotty zuwirft, entgeht mir aber keineswegs.

Die Mädels himmeln ihn ungeniert an. Ira schielt befangen auf sein Kinn. Ich schätze, sie hört nicht viel von dem, was er sagt. Petra hat feuerrote Wangen und starrt betreten unter sich.

Er ist etwa 1,85 m, muskulös ohne protzig zu sein und mit Jeans, T-Shirt und Turnschuhen supersportlich angezogen. Sein dunkelbraunes Haar träg ist kreuz und quer verstrubbelt, wie bei Thomas Müller[JS2] , wenn dieser sich die Haare rauft. Ansonsten ähnelt Steinhauser beileibe nicht dem Fußballprofi des FC Bayern.

Der Schlagabtausch am Podium wird verbissener und lauter. In den Zügen von Sprotty und seines Mentors manifestiert sich Frustration.

Christina bittet stumm um Verständnis. Zaghaft nicke ich ihr zu. Was im Gange ist, ist signifikant für die jungen Leute und Sprotty hat meine Sympathie gewonnen.

Wäre er mir in einem Einkaufszentrum begegnet, wäre ich versucht gewesen, ihm ein bisschen Geld zuzustecken. Nach unserer Debatte vor der Vorlesung bin ich insgeheim zerknirscht über meine Vorurteile.

In die Gruppe kommt Bewegung. Alle schnappen sich ihre Taschen und steuern auf mich zu. Langsam erhebe ich mich und mein Blick kreuz den von Professor Steinhauser. Mein Körper beginnt zu kribbeln und ich hebe rasch meine Tasche auf. Er ist Lehrstuhlinhaber der Wirtschaftswissenschaften, er wird erkennen, wer sich in seine Vorlesung geschlichen hat. Angestrengt warte ich auf seine Reaktion.

Sie bleibt aus.

„Hey, du bist noch da. Wir wollen mit Steini in den Biergarten um die Ecke, um unsere Schwierigkeiten bei einem kühlen Bier zu Ende zu diskutieren. Kommst du mit?“, ruft Sprotty enthusiastisch. Sein Kummer ist wie weggeblasen.

Christina betrachtet verlegen ihre Schuhspitzen. Nichts läuft, wie wir es geplant hatten. Es ist nicht ihre Schuld.

„Ich möchte euch nicht stören“, murmle ich gehemmt. Identifiziert mich ihr Dozent, bin ich die Hauptattraktion.

„Du störst nicht“, fällt Ira mit ein. „Du hast Know-how von der Materie und bestenfalls eine Idee, um den Karren aus dem Dreck zu ziehen.“

Ich weiß nicht, worum es geht, und sie weckt meine Neugierde.

Professor Steinhauser tritt auf mich zu und Christina fühlt sich genötigt, mich vorzustellen.

„Das ist meine Freundin …“

„Maria Schrader“, schneide ich ihr das Wort ab und ihre irritierte Miene spricht Bände.

„Professor Benedikt Steinhauser.“ Er schließt die Lücke zwischen uns und reicht mir seine Rechte. Sein verbindlicher Händedruck und seine verwegenen blauen Augen, die mich von oben bis unten scannen, lassen mich erröten.

„Freut mich Sie kennenzulernen. Wenn Sie nichts dagegen haben, leiste ich Ihnen und Ihren Studenten gerne Gesellschaft, obwohl ich nicht viel beitragen kann.“

Christina stehen tausend Fragezeichen ins Gesicht geschrieben und ich überlege, was mich geritten hat.

 

 

3. Kapitel

 

Es stellt sich heraus, dass ich durchaus helfen könnte. Dafür müsste ich preisgeben, was ich vorher bewusst vertuscht habe.

Um ehrlich zu sein, genieße ich die Anonymität und möchte sie nicht aufgeben. Gebe ich meine wahre Identität preis, werde ich zum Außenseiter. Das geschieht instinktiv und ungewollt. An meinem Namen haftet zu viel, als das die Unbefangenheit, mit der mir die vier Studenten begegnen, bestehen bleiben könnte.

Benedikt Steinhauser sitzt mir vis-à-vis. Hat er mich erkannt, behält er die Information für sich. Allerdings habe ich nicht den Eindruck, dass er weiß, mit wem er im Biergarten sitzt.

„Wir werden einen Platz für Sie organisieren, Sprotty“, verkündet er zuversichtlich und ich hoffe, er behält recht. „Sie sind einer der Intelligentesten dieses Semesters und ich bin überzeugt, es gibt einen Betrieb, der sich nicht von Äußerlichkeiten leiten lässt. Zur Not schneiden Sie sich Ihre Dreadlocks ab.“ Sein Lachen widerlegt die Ernsthaftigkeit seines letzten Satzes.

„Was machen Sie beruflich?“, erkundigt er sich und ich lasse vor Schreck fast meine Tasse fallen. Krampfhaft wäge ich ab, was nah genug an der Realität ist, um mich im Fortgang nicht in meinen Lügen zu verfangen.

„Ich bin bei Winters beschäftigt.“

Ein Raunen geht durch die Gruppe. Jeder, der mit Wirtschaftswissenschaften zu tun hat, leckt sich die Finger nach einer der begehrten Stellen des internationalen Großkonzerns.

„Ein interessantes Unternehmen“, sagt Steinhauser versonnen. „Was machen Sie?“

Meine Freundin runzelt kritisch die Stirn.

„Ich arbeite der Geschäftsleitung zu.“ Das ist nicht gelogen. Meine offizielle Berufsbezeichnung lässt einen anderen Schluss zu. Spitzfindigkeiten mit denen sich die Anwälte herumgeschlagen haben.

„Allegra Winters? Höchst persönlich?“ Marcus schaut mich konsterniert an.

„Ja, für sie“, lüge ich und krümme mich innerlich vor Scham.

Ein aufgeregtes Schnattern geht durch die Runde und alle stürmen gleichzeitig mit ihren Fragen auf mich ein. Professor Steinhauser kann sich ein Schmunzeln nicht verkneifen und bremst seine Studenten aus.

„Redet ihr parallel, kann Maria keinem von euch antworten. Müssen wir wie in der Grundschule anfangen? Melden, warten bis ihr aufgerufen werdet und loslegen.“

Er winkt der Kellnerin und wir bestellen Getränke. Sie starten mit Fragen über meinen Job im Allgemeinen, gefolgt von denen über Allegra Winters im Speziellen. Es ist seltsam über mich in der dritten Person zu reden. Christina wirft mir grantige Blicke zu und ich kann es ihr nicht anlasten. Sie ist stinksauer. Ich bereue, was ich getan habe.

Meine Wege trennen sich von ihren Kommilitonen, sie muss weiterhin mit ihnen studieren.

„Du hast persönlich mit ihr zu tun. Kannst du abchecken, ob sie Sprotty einen Platz bei euch beschaffen kann?“ Iras Einwurf verschafft mir die Chance ihm zu helfen.

„Wir sollten Frau Schrader nicht in Verlegenheit bringen“, moniert Steinhauser rücksichtsvoll.

„Sein äußeres Erscheinungsbild ist also doch ein Problem“, echauffiert sich Petra und funkelt ihn verbittert an.

„Das habe ich nicht gemeint“, erwidert er. „Bitten wir Maria, Sprotty bei ihrem Arbeitgeber ins Gespräch zu bringen, sollten wir vorher eruieren, ob es ein Verstoß gegen die Compliance-Richtlinie ist. Sie würde die Unterlagen am offiziellen Bewerbungsverfahren vorbeischleusen. Wir haben das in unserem Seminar ausführlich erörtert. Erinnere ich mich recht, ist nicht nur die Vergabe von Aufträgen gegen Finanzmittel ein Verstoß. Abgesehen davon könnte Maria andere Gründe haben, diesen Gefallen nicht von ihrer Chefin einzufordern.“

Ungewollt bewundere ich ihn dafür, dass er Maria Schrader schützen und ihr ein Schlupfloch bieten will, sich herauszuwinden. Er lächelt mich verwegen an und zwinkert mir verschmitzt zu. Komplett vom Haken lässt er mich nicht.

„Schick mir deine Unterlagen“, sage ich zu Sprotty, der mich optimistisch ansieht, „ich werde schauen, was ich für dich tun kann.“ Mit einem beschwörenden Augenzwinkern ergänze ich: „Das bleibt unter uns.“

„Das muss besiegelt werden“, jubelt Petra und winkt die Kellnerin herbei. Die drei trinken inzwischen Alkoholisches. Professor Steinhauser, der bisher alkoholfreies Bier getrunken hat, steigt auf Wasser um und ich schließe mich ihm an. Koffein zu später Stunde lässt mich nicht schlafen. Nach der letzten kann ich mir keine weitere schlaflose Nacht erlauben. Morgen muss ich ins Büro und Elena braucht eine ausgeruhte Mutter.

Die Spontanparty wird feuchtfröhlicher und keiner von uns ist im Begriff, sie zu verlassen. Erfreulicherweise bleibt auch Steini. Den liebevollen Spitznamen haben ihm seine Studenten verpasst.

Unsere Blicke kreuzen sich zuweilen. Je fortgeschrittener der Tag, desto lustiger werden die Studenten und umso belustigter grinsen der Professor und ich uns an. Irgendwann ziehen Ira und Petra von dannen. Sprotty unterhält sich abseits mit Bekannten und Marcus klebt wie eine Fliege im Spinnennetz an Christina. Wahrscheinlich bahnt sich ein One-Night-Stand an, mit dem die beiden nach dem Abbau des Alkohols nicht umgehen können. Mein halbherziger Versuch, sie dazu zu bewegen, unseren ursprünglichen Plan aufzunehmen, scheitert kläglich.

„Was hatten Sie heute vor? Oder sind Sie zum Vergnügen in meiner Vorlesung gelandet?“ Er spricht gedämpft. Die Anzahl seiner Gesprächspartner ist begrenzt. Die zwei anderen sind mit sich beschäftigt. Bleibe ich.

In seiner Gegenwart fühle ich mich keineswegs unwohl, aber unsicher. Es ist lange her, dass ich mit einem Mann über Privates gesprochen habe. Zu gravierend sind meine seelischen Wunden und zu weit reicht die Macht, die ein Toter über mich hat.

„Maria?“ Der Klang seiner Stimme ist melodiös und trägt eine Spur Lachen mit.

„Wir wollten klettern gehen. Chris musste in Ihre Vorlesung und Sprotty hat mich im Verlauf unserer Diskussion unbeabsichtigt in den Hörsaal geführt. Den Rest der Geschichte kennen Sie.“

„Hoffentlich habe ich Sie nicht gelangweilt. Immerhin erleben Sie bei Winters weit Aufregenderes.“

„Meisten nichts so lustiges“, rutscht es[JS3]  mir spontan heraus und ich ernte ein vergnügtes Lächeln von ihm.

Wir kommen ins Plaudern. Er berichtet von seinem eigenen Studium, das knochentrocken war und bei einem alternden Dozenten stattgefunden hatte. Sein Konzept, der jungen Generation Studenten Spaß an der Wirtschaft zu vermitteln, imponiert mir. Details über mich gebe ich nicht preis, zu groß ist die Gefahr, mich zu verraten, dennoch kann ich die eine oder andere Anekdote aus meinem Studium zum Besten geben. Im Laufe unserer Unterhaltung bietet er mir das Du an. Kurz überkommen mich Skrupel, weil er denkt, ich sei Maria.

 

Bei Bens Vorschlag, in ein Restaurant umzuziehen, bin ich nicht abgeneigt. Elena schläft bei ihren Großeltern und ich habe kein Motiv zu gehen. Wir Mädels wollten den Abend ohnehin in einem Restaurant ausklingen lassen.

Marcus schließt sich uns an. Einen halben Straßenzug vor der Pizzeria packt Christina mich grob und bringt Distanz zwischen uns und die beiden Männer.

„Verdammt, was soll der Scheiß? Maria Schrader? Wie willst du aus der Nummer aussteigen?“, lallt sie.

„Gar nicht. Nach dem Essen trennen sich unsere Wege. Sollte Sprotty bei uns anfangen, werde ich vermeiden, ihm zu begegnen“, erwidere ich entschlossen und verberge insgeheim meine eigene Skepsis.

„Ich habe dich für schlauer gehalten“, brummt sie. „Glaubst du, Sprotty fängt bei Winters an und stalkt nicht, wer seine Chefin ist? Allegra Maria Winters, du hast Scheiße gebaut!“

„Psst! Sei still!“, fauche ich meinerseits. Sie hat recht, ich habe Scheiße gebaut.

„Lass uns streiten, wenn du nüchtern bist und nenn mich Twinny.“

Sie brummelt unverständlich vor sich hin, will zu den Männern aufschließen und hält inne.

„Ist heute nicht wie geplant gelaufen. Sollen wir uns abseilen?“

„Nein“, sage ich rasch. Ich genieße den Abend viel zu sehr. „Wir wollten sowieso essen gehen. Marcus und Ben können uns gerne begleiten?“

„Ben?“ Sie hebt neugierig die Braue.

„Dein Professor. Hättest du dich nicht an Marcus rangeschmissen, hättest du mitbekommen, dass wir beim Du angelangt sind.“

„Und wie nennt er dich? Twinny oder Maria?“, kann sie sich einen sarkastischen Seitenhieb nicht verkneifen.

 

 

4. Kapitel

 

Wir gehen zu den wartenden Männern und ich habe keine Chance, mich wegen meiner Täuschung zu rechtfertigen. Ich bin sicher, sie wird meine Argumente nachvollziehen können. Jetzt ist dafür nicht der rechte Rahmen und vor allem ist sie nicht nüchtern.

Die beiden stehen vor der Pizzeria. Ben ist anzusehen, dass ihm der Zustand seines Schützlings nicht behagt. Er berührt mich am Ellbogen. Es ist eine höfliche Geste, völlig unbedacht. Mich lässt sie zusammenzucken. Er merkt nichts und führt mich durch die Reihen. Meine Furcht weicht der Erkenntnis, dass es mich nicht stört. Heilt die Zeit tatsächlich alle Wunden?

An einem Vierertisch nimmt er mir gegenüber Platz und wir knüpfen unbefangen an unseren vorherigen Small Talk an. Ich ordere ein Glas Wein, in dem Wissen, danach Sundermann anrufen zu müssen. Immerhin wird er dafür bezahlt, obwohl ich vermeide, ihn in Anspruch zu nehmen.

Bis zum Hauptgang wird Christina langsam nüchtern. Kurioserweise klebt sie weiter an Marcus.

Ob sie morgen bereut, was geschieht?

Das Abräumen des Desserts führt schließlich dazu, dass ich allein mit Ben zurückbleibe. Die Turteltäubchen verabschieden sich zur Toilette.

Wir schmunzeln uns an.

„Ich erlebe häufig in den Vorlesungen, dass meine Studentinnen in Grüppchen aufs Klo gehen. Diese Kombination ist mir neu“, flachst er. „Magst du einen Espresso?“

„Nein danke, ich mag meinen Schlaf“, kontere ich belustigt. Er winkt der Kellnerin, bestellt und deutet auf mein Weinglas. Es ist absolut unvernünftig, nichtsdestotrotz nicke ich.

„Bist du verheiratet?“

Sein Vorstoß sollte mich nicht irritieren. Er hat unverhohlen mit mir geflirtet und ich bezweifle, dass er wegen seiner Studenten bei uns geblieben ist.

„Nein … nicht mehr“, bekenne ich zu meinem eigenen Erstaunen.

Er kräuselt die Nase. Mit meinem Zusatz habe ich eine Pforte aufgestoßen, die ich nicht öffnen wollte. Mein Blick schweift zur Toilette. Einer der beiden könnten mich retten, sie bleiben jedoch verschwunden.

„Ich bin Witwe“, oute ich mich notgedrungen.

„Das tut mir leid.“

„Danke“, erwidere ich verdrossen. Mir nicht.

„Vermutlich sollte ich mich meinerseits erkundigen, ob du verheiratet bist. Ich halte mich für intelligent und setze voraus, du hättest nicht gefragt, würde eine Partnerin auf dich wartet.“ Sein sympathisches Lachen dringt in mein Ohr. Es ist das übliche Geplänkel zwischen Singles, die sich gerade kennenlernen. Ich bin nicht wirklich Single. Weit über den Tod meines Mannes hinaus, bin ich an ihn gebunden. Er hat dafür gesorgt, dass kein anderer mich je begehren kann. Er hat mein Herz nie besessen und doch werde ich es niemals einem anderen schenken können.

„Hör zu.“ Panik kriecht mir den Nacken hinauf. „Du bist charmant und ich habe die Gespräche mit dir und deinen Studenten genossen. An etwas anderem bin ich nicht interessiert. Es war nicht meine Absicht … Du hast viel Zeit geopfert und verdienst keine Abfuhr. Ich bin ni…“

„Maria, entspann dich.“ Er berührt meine Hand und lächelt mich galant an. „Was du mir sagen willst, ist ok. Lass es uns nicht verderben, indem wir meinen Vorstoß peinlich zwischen uns werden lassen. Nimm es mir nicht übel, meine Chancen ausgelotet zu haben.“

Die Kellnerin bringt unsere Getränke und ich bin froh für die Unterbrechung. Gehemmt nippe ich an meinem Glas. Das Schweigen zwischen uns wird bleischwer. Mir hat es die Sprache verschlagen und ihm scheint es ähnlich zu gehen. Sehnsüchtig fiebere ich meine menschliche Stütze herbei.

„Ich sollte nachsehen, ob alles in Ordnung ist.“ Er hält mich davon ab, mich zu erheben.

„Du könntest in eine prekäre Situation platzen.“

Seine Andeutung wühlt mich auf. Nicht, weil es mir unangenehm wäre, sie in einer verfänglichen Situation zu ertappen. Es ist der Umstand, dass mir die Wahl verwehrt bleibt, mich in eine ungezwungene Affäre zu stürzen. Mein eigener Erlebnishorizont ist winzig. Ich misstraue Menschen, vor allem Männern, weil ich in meiner Vergangenheit gefangen bin.

Was ist mit Maria Schrader?

Der Gedanke hat schlagartig manifestiert und ich schnappe verblüfft nach Luft. Ben bezieht es auf seine vorangegangene Aussage und geht nicht darauf ein. Mein Gehirn überschlägt sich. Maria ist völlig isoliert von Allegra. Sie ist ein Produkt meiner Phantasie. Ich kann der Figur die Rolle der Geliebten auf den Leib schneidern. Ein One-Night-Stand mit einem sexy Kerl und morgen kann ich das Ruder zurückerobern.

„Könnte den Nagel auf den Kopf treffen“, murmle ich, um die Stille zwischen uns zu durchbrechen.

Könnte Maria sich auf einen One-Night-Stand mit dem attraktiven Professor einlassen? Wäre ich in der Lage, Maria das Feld zu überlassen?

„Wir könnten spazieren gehen. Im Planten un Blomen haben sie diesen Sommer eine Skulpturenausstellung. Wir sind in der Nähe, wenn die anderen zurückkommen, könnten wir losziehen.“

Ich sollte gehen. Der Teufel Maria hat einen heftigen Disput mit dem Engel Allegra und boxt ihn schließlich von meiner Schulter.

„Klar, gerne“, stimme ich stattdessen erfreut zu. „Ich habe davon gehört. Sie soll ausgezeichnet sein. Lass mich Christina eine Nachricht schicken.“

Auf dem Display entdecke ich zwei Nachrichten. Eine ist von meinen Ex-Schwiegereltern, die mich informieren, dass mit meinem Sonnenschein alles in Ordnung ist. Die Zweite ist von Christina.

 

Ein Mucks und ich bin bei dir.

Bin mit M. um die Ecke.

LG C.

 

In ihrem angetrunkenen Zustand hat sie an mich gedacht. Ich schäme mich dafür, auf sie angewiesen zu sein. Was sich zwischen Marcus und ihr entwickelt, konnte sich wegen mir nicht entfalten. Gut, dass sie trotzdem gegangen sind.

 

Geht ins Hotel. Ich zahle und lasse mich abholen.

Ruf mich morgen an, ich will Details.

LG

T

 

„Wir können ungestraft gehen. Sie haben sich abgeseilt.“ Mit einem Wink auf mein Smartphone grinse ich ihn scheu an. Er erwidert mein Grinsen. Das Unbehagen hat sich verflüchtigt. Mein Entschluss Maria Schrader eine komplett andere Rolle zuzugestehen, wirkt befreiend auf mich.

Seinen Gang zur Toilette nutze ich, um die Rechnung zu bezahlen und lasse seine mürrische Reaktion bei seiner Rückkehr an mir abprallen. Er ahnt nicht, dass mein Gehalt deutlich von seinem nach oben abweicht.

„Ab jetzt bist du mein Gast.“ Sein strahlendes Lächeln mildert den strengen Ton, den er anschlägt, ab.

Er ist ein Mann, auf den die Beschreibung weich passt. Dabei ist nichts an ihm wirklich weich. Er ist groß, gut gebaut und muskulös. Nichts an ihm ist hart, grob oder dominant. Er ist intelligent, eloquent und überaus humorvoll. Sein lässiges Auftreten gepaart mit Witz, Charme und Esprit machen ihn zu einem beliebten Dozenten. Seine Studentinnen himmeln ihn an und nicht wenigen wird es nach einer stürmischen Liaison mit ihm gelüsten.

Wir verlassen Seite an Seite das Restaurant. Er bietet mir formvollendet den Arm und ich hake mich bei ihm unter. Der Abend ist lau und es weht ein sanfter Wind. Die Sonne steht über dem Horizont und schickt sich an, demnächst unterzugehen.

Gemächlich schlendern wir durch die Straßen zu Planten un Blomen. Wir unterhalten uns über Bücher, alte Filme, Musik aus unserer Jugend und stellen etliche Gemeinsamkeiten fest.

„Ein traumatisches Ereignis in den Anfängen meiner Pubertät war die Trennung der Boygroup Ultraview.“ Mit diesem Geständnis bringt er mich zum Schmunzeln.

„Ich war damals acht und habe gerade angefangen, mich für Musik zu interessieren. Die kleine A … Maria fand Toby süß, aber du?“

„Noch eine von denen.“ Theatralisch fasst er sich an die Brust und setzt eine bittersüße Miene auf. Ich kann nicht anders und lache ungehemmt. „Meine gequälte Seele musste immensen Schmerz ertragen und du lachst mich aus?“ Seine Mimik ist köstlich. Mir tut der Bauch vor Lachen weh. Freudentränen hängen in meinen Wimpern, ich schüttle mich am ganzen Leib und genieße diese unbekannte Freiheit.

Mein Lachen hat Aufmerksamkeit erregt. Ben nimmt meine Hand und wir laufen weiter.

„Ich hatte meine allererste Freundin. Mit dreizehn lief das Händchen halten allmählich aufs Knutschen hinaus. Unsensiblerweise konnte ich nicht nachvollziehen, warum sie sich wegen fünf Jungs, die ganz manierlich singen, die Augen aus dem Kopf heulte. Ihr zu offenbart, wie lächerlich den Wirbel um die Band finde, war sehr unklug. Sie hat mir eine gescheuert und ich blieb ungeküsst.“

Aus einem Impuls heraus bleibe ich stehen und versinke in den tiefen seiner blauen Iris.

„Das ist traurig“, murmle ich und schließe die Lücke zwischen uns. „Ich schätze, ich kann einen Teil deines Traumas kompensieren.“

Jeder Schwur, den ich mir gegeben habe, wird pulverisiert. Ich ergreife die Initiative und küsse ihn liebevoll auf seine einladenden, vollen Lippen. Jetzt ist nicht die Zeit, mein Handeln zu ergründen. Meine Zunge tastet über seinen Mund und begehrt Einlass. Sanft werde ich empfangen. Er berührt meine Hüfte, presst uns aneinander und setzt mich in Brand. In mir lodert eine helle Flamme, Erregung durchflutet mich und versetzt mich in Aufruhr. Ein sehnsüchtiges Seufzen verlässt meinen kribbelnden Körper.

Viel zu schnell ist es vorbei und ich spähe verlegen zu Boden. Mein Geist ist leer gefegt.

„Dieser entschädigt mich bei Weitem für das, was mir damals verweigert wurde.“

Es war atemberaubend. Nichts, was ich je zuvor erlebt habe, war berauschender als dieser Kuss, aber er entschädigt mich leider nicht für das, was ich erdulden musste. Engel Allegra erobert ungestüm meine Schulter und schubst Teufelchen Maria von der Klippe. Die Emotionen, die mich überfluten, sind mir unbekannt und schüchtern mich ein. Ich habe nie zuvor so empfunden. Sie sind fabelhaft, berauschend und verleiten mich zur Fahrlässigkeit. Ein simpler, an nichts zu überbietender Kuss darf mich nicht dazu bringen, dass ich verdränge, was mir zugestoßen ist. Phänomenale Empfindung hin oder her. Ich muss …

„Lass uns gehen“, sagt er in meine Grübelei hinein und zieht mich zu den Skulpturen. Er hält seine Finger mit meinen verschränkt und ein elektrisierendes Kribbeln läuft meinen Arm hinauf.

„Arbeitest du gerne für deine Chefin?“

Wir haben wenig von unseren Jobs gesprochen und keiner hat ein detailliertes Interesse an meiner Tätigkeit bekundet. Was soll ich ihm erzählen? Ich bin gerne Geschäftsführerin eines internationalen Großkonzerns, den ich nach dem Tod meines Mannes managen muss? Nein, so ist es nicht und hätte ich von Anfang an mit offenen Karten gespielt, könnte ich ihm die Wahrheit trotzdem nicht beichten.

„Es ist ein Job, durch den ich ein Dach über dem Kopf habe und meinen Lebensunterhalt bestreiten kann. Meistens macht er mir Spaß. Es gibt Kollegen, die lästig sind, aber ist das nicht überall der Fall?“

„Enthusiastisch klingst du nicht. Das Unternehmen soll sich unter der neuen Führung zum Positiven entwickelt haben. Vor allem was die Sozialbedingungen angeht, hat sich viel getan. Vorher hörte ich viel Negatives. Wie lange bist du dort?“

Innerlich winde ich mich wie ein Aal.

„Seit vier Jahren“, gestehe ich ehrlich und hoffe, er legt das Thema ad acta.

„Das dürfte zu der Zeit gewesen sein, in der Allegra Winters die Geschäfte übernommen hat. Ich habe das damals am Rande verfolgt. Wer im Wirtschaftssektor arbeitet, bleibt von der Tragödie nicht verschont. Wie geht es ihr?“

Es wird immer schlimmer. Sein Interesse ist nachvollziehbar. Mich bringt es tiefer in die Zwickmühle, in die ich mich befördert habe.

„Gut“, erkläre ich kurz angebunden.

Er runzelt die Stirn und inspiziert eine weitere der über den gesamten Park verteilten Skulpturen. Sie sind aus Holz, Stein oder Metall und stellen allesamt den Schwerpunkt Licht und Schatten dar. Es sind überwiegend kunstvoll angefertigte Werke. Die Skulptur, vor der wir stehen, ist aus Metall. Sie als grotesk zu bezeichnen ist harmlos formuliert.

„Was soll das sein?“, murmle ich vor mich hin. Nicht, weil es mich interessiert, vielmehr ist es das Erste, was mir durch den Kopf schießt.

Der Künstler hat unterschiedliche Metalle verwendet und Akzente in hellen und dunklen Farben gesetzt. So weit die Beziehung zu Licht und Schatten. Einen essenziellen Bezug kann ich nicht hineininterpretieren. Gerade und gebogene Metallstreben mit gewellten, geriffelten und gelochten Platten. Glatt polierte Flächen wechseln sich mit angerauten ab.

„Es ist ein bisschen wie du.“

Verwundert blicke ich auf. „Du vergleichst mich mit einem Haufen Schrott?“, will ich weit weniger im Spaß wissen, als die Frage vermuten lässt.

„Nein, wo denkst du hin? Meine Gespräche mit dir ähneln diesem Gebilde. Manche Fragen beantwortest du rundheraus, bei manchen schlingerst du und manche versinken in einem Loch. Mitunter bist du direkt und offen und es gibt Themen, bei denen du dich komplett verschließt.“ Sachte streichelt er meine Wange. „Ist dir ein Thema unangenehm, sag es mir. Du hast ein Recht auf deine Geheimnisse und deine Privatsphäre. Ich bin dir zwar weniger fremd als vor Beginn meiner Vorlesung, dennoch ich bin ein unbeschriebenes Blatt für dich.“

Ich sinniere über seine Theorie und die Skulptur vor mir.

„Du faszinierst mich. Du bezauberst mich. Du elektrisierst mich.“ Er schließt die Lücke zwischen uns. „Du hast mich um den Verstand geküsst und ich will mehr.“ Seine Lippen sinken auf meine. Willig heiße ich ihn willkommen, gebe mich ihm hin und bete, auf einen für uns beide schmerzlosen Weg zu stoßen, es wieder zu beenden.

 

 

5. Kapitel

 

Nach dem Kuss vor der Skulptur hat er mich nicht losgelassen, bis wir bei seinem Wagen waren und eingestiegen sind. Sundermann anzurufen hat er kategorisch abgelehnt. Er hat die Notwendigkeit nicht eingesehen, den Chauffeur von Winters zu beauftragen, wenn er mich fahren kann. Kurioserweise habe ich nachgegeben und meinen Zustand als aufgekratzt zu bezeichnen, ist ein großes Understatement.

Für ihn kann es nur die eine Adresse geben. Den Ort, an dem ich mir geschworen habe, nie einem Mann Zutritt zu gewähren und den Ben niemals betreten darf. Das Territorium, das allein Elena und mir gehört. An dem ich ganz ich selbst sein kann. Geschützt vor dem Bösen dieser Welt.

Meine unbedachte Lüge zwingt mich zu einem Schritt, den ich nie vollziehen wollte.

Vor ihrem Tod war ich mit Sophia auf Besichtigungstouren für ein Eigenheim, in das sie mit ihrer Tochter hätte einziehen sollen. Ihr Geliebter wollte sie in einer beschaulichen Umgebung, um uneingeschränkten Zugriff auf sie zu erlangen. Der Entfall der aufmerksamen Nachbarn in der Mietwohnung wäre ein zusätzlicher Bonus gewesen. Während der Schwangerschaft hat Sven mir schonungslos zu verstehen gegeben, wie zwingend sie dieses abgeschiedene Heim benötigt. Sie hatte es vor sich hergeschoben, hielt es für übertrieben und wollte sich nicht von ihm aushalten lassen.

Wie es auch war, wir hatten uns auf Anhieb verliebt. Nach der Besichtigung hatte sie zu mir gesagt:

„Du in meiner Situation würdest sofort deine Koffer packen. Hast ja recht, es wäre perfekt für Charlotte und mich.“

In diesem Moment wusste ich, dass sie es nicht kaufen würde. Ich habe scheinheilig gezuckt und ein inhaltsloses Lächeln aufgesetzt. Mir lag daran, ein Haus für sie zu finden, in das sie unverzüglich einzieht. Darüber konnte ich natürlich nicht mit ihr sprechen. Die neugierige Katze hätte nach dem Grund geforscht.

„Darum werde ich es nicht kaufen. Durch Sven würde es das Besondere für uns verlieren. Du würdest deine Besuche nicht genießen. Willst du wirklich nicht, dass ich es beende? Wieso tolerierst du unser Verhältnis?“

Zum tausendsten Mal habe ich unser Dreiecksverhältnis abgesegnet. Aus dem gleichen konservativen Elternhaus entsprungen, konnte sie meinem Argument einer offenen Ehe wie immer nichts abgewinnen. Verständnislos ist sie davongerauscht.

Einen Monat nach der Besichtigung waren sie tot. Die zwei wichtigsten Menschen und mein Mann waren von einer Sekunde auf die nächste ausgelöscht. Wären Elena und Christina nicht gewesen, weiß ich nicht, ob ich diese Tragödie überstanden hätte. Hauptsächlich mein Kind hat mir Lebenswillen gegeben, um nach dem tragischen Unfall die enormen Veränderungen zu bewältigen.

Ich habe das schmucke Häuschen gekauft. Eine Zufluchtsstätte, an der sich auch Sophia und Charlotte wohlgefühlt hätten.

Ist meine Gegenwart unbedingt erforderlich, bin ich auf dem Anwesen in Bergedorf. Ansonsten verbringe ich in Reinbek ein schlichtes Dasein frei von Luxus, Privilegien und hübschen Fassaden. Fassaden, hinter die nicht gelugt wird, um all die Hässlichkeit übersehen zu können.

In dieser Umgebung bin ich glücklich und kann ich selbst sein. Ich habe mir geschworen, mir das durch nichts und niemanden zerstören zu lassen.

Jetzt bin ich im Begriff, meinen heiligsten Schwur zu brechen. Oder gibt es einen vernünftigeren Ort, an dem sich Maria Schrader mit Benedikt Steinhauser in einen One-Night-Stand stürzen kann?

Ein One-Night-Stand?

Nein, das haben Allegra und Maria nicht verdient. Ich muss beenden, was nicht richtig angefangen hat.

 

Um acht Uhr parken wir am Straßenrand vor dem kellerlosen Einfamilienhaus. Es hat große helle Räumen und ein ausgebautes Dachgeschoss, in dem unsere Schlafzimmer untergebracht sind. Dahinter ist ein von der Straße nicht einsehbarer Garten. Ein Blick hinein und er wüsste, dass ich Nachwuchs habe. Eine Information, die ich ihm nicht geben möchte. Mein Entschluss steht. Ich werde aussteigen, mich bedanken und für immer von ihm verabschieden.

„Das ist sehr schick. Wie lange wohnst du hier?“ Er ist im Begriff aus dem Wagen zu steigen. Entschieden halte ich ihn auf.

„Seit vier Jahren. Ich bin eingezogen, nachdem ich bei Winters angefangen habe“, räume ich ein. Das ist nicht gelogen. Die ersten Nächte habe ich direkt nach der Übernahme der Holding hier verbracht.

„Sehr groß für dich allein.“

Die Intention hinter seiner Aussage ist unverhohlen und die Frage, die mitschwingt, steht zwischen uns. Gibt es jemanden in deinem Leben, der dieses große Haus rechtfertigt?

Ich hülle mich in Schweigen und die Stille im Wagen droht peinlich zu werden.

„Danke fürs Heimbringen.“

„Du wirst mich nicht hereinbitten, oder?“ Der sehnsuchtsvolle Tonfall lässt mich wanken.

„Nein.“

„Du wirst mir auch nicht deine Nummer geben?“ Er klingt ernüchtert.

„Nein!“

„Du willst mich nicht wiedersehen?“

„Nein!“ Doch!

Geknickt nimmt er es hin.

„Gibst du mir einen Abschiedskuss? Was hast du zu verlieren?“

Alles! Ich neige mich zu ihm und erfülle seinen Wunsch. Wie zuvor sendet die zärtliche Berührung seiner Lippen ein Kribbeln bis in meine Haarspitzen. Mein Blut tost wie kochende Lava durch mich und ich verzehre mich nach ihm. Instinktiv lasse ich zu, dass er mich an sich presst. Er gräbt sich durch meine braunen Locken und ich spüre seine Erregung. Das Gefühl, jemand hätte einen Kübel Eiswasser über mich gegossen, lässt mich erschrocken von ihm weichen.

„Maria?“

„Es … ich kann nicht.“

Rasch steige ich aus dem Wagen, verheddere im Gurt und stürze fast. Hinter mir höre ich Ben aussteigen.

„Maria, warte!“

Ich renne über den Pfad und halte den elektronischen Öffner vors Schloss. Seine Schritte nähern sich und ich verbiete mir, mich umzuschauen. Er darf die Emotionen, die meine Miene widerspiegelt, nicht sehen, denn er hat die Macht, mich vollends zu zerstören.

„Warte, was ist passiert?“ Seine dumpfe Stimme ist dicht hinter mir.

Das Schloss schnappt auf, ich haste hinein und werfe die Tür krachend zu. Im Schutz meines Heimes lasse ich mich am Türblatt hinabsinken und den brennenden Tränen freien Lauf.

„Bist du in Ordnung? Ich weiß, du hörst mich. Lass uns so nicht auseinandergehen.“ Durch die dicke Panzerung sind seine Worte ein gehauchtes Flüstern. Der Kloß in meinem Hals ist so dick, dass ich keinen Ton herausbringe.

Ich sitze ewig im Flur und überlasse mich meiner Seelenqual. Seine Erregung hat an die Oberfläche gespült, wie es war, mich Sven aus Leidenschaft hinzugeben. Er hat mich verführt und für sich annektiert. Die Erkenntnis, dass Erregung unterschiedlich motiviert sein kann, musste ich bitter lernen. Jede Medaille hat zwei Seiten. Erregung und Leidenschaft sind nur eine.

 

 

6. Kapitel

 

Alle kennen den Grund, warum ich gestern Urlaub hatte. Erfreulicherweise wird keiner fragen, wie es mir geht.

Mein Unterbewusstsein hat sich das erlebte zu Eigen gemacht und ich habe schlecht geschlafen. In meinen Träumen vermischen sich Vergangenheit und Gegenwart. Ben hat die Rolle meines Mannes verkörpert und die Liebelei zwischen ihm und Sophia war das Harmloseste. Schlimmeres hat mich schweißgebadet wach werden lassen. Den Rest der Nacht war nicht an Schlaf zu denken. Ich bin aufgestanden und losgefahren, um den Berg Liegengebliebenes von gestern zu erledigen.

Das Gros wähnt in mir das hübsche Gesicht von Winters. Sie spekulieren, dass ich von all den Managern und Juristen gelenkt werde. Die Wirklichkeit ist eine andere. Ich habe einiges auf dem Kasten und mehr Macht, als dem ein oder anderen recht ist. Allen voran Svens Eltern sehen der Realität, dass ich die Geschicke leite, ungern ins Auge.

Nach seinem Tod sollte ich es bei der Vorzeigeposition belassen und die Führung denen überlassen, die heute unter mir stehen. Die Geschäftsführer der Sparten und Segmente waren allerdings nicht die Quertreiber. Sie haben eine Frau an der Spitze des Konzerns gebilligt. Die Bereichsleiter in der Muttergesellschaft, der Winters Holding, haben indes von Anfang an rebelliert und getrieben von den alten Winters, mit den internen Juristen gegen mich prozessiert.

In den ersten Monaten habe ich das ein oder andere Exempel statuiert und die meisten haben aufgegeben. Leider gibt es bis dato Menschen, die mir Steine in den Weg werfen, wo sie können.

 

Am späten Vormittag brüte ich über einem Vertrag, den ich verhandeln soll. Das Klingeln meines Smartphones reißt mich aus der Konzentration.

„Hey, schon nüchtern?“

„Kannst du deinem Anstandswauwau den Marsch blasen, dass sie mich durchzulassen hat?“, mault Christina verschnupft.

„Was ist es diesmal?“, frage ich gereizt. Meine Sekretärin zählt zu der Personengruppe, die mich subtil sabotieren, wo sie können.

„Du bist unabkömmlich und kannst nicht gestört werden, oder so ähnlich.“

Ähnlich trifft es. Ich wollte nicht gestört werden, weil ich den Vertrag durchgehen muss. Ungeachtet dessen weiß sie, solche Anweisungen gelten niemals für Elena oder Christina. Diese beiden können mich jederzeit erreichen.

„Das Übliche … ich werde sie mir vorknöpfen. Erwarte nicht, dass ich sie bekehre.“

„Wann wirfst du den alten Drachen endlich raus?“

„Du weißt, so simpel ist es nicht. Sie weiß Interna, die mir erheblichen Schaden zufügen können.“ Ebenso wie die anderen, die mich permanent auf die Palme bringen. Es gibt keinen, der Macht über mich hat, aber es gibt Personen, nicht nur im Führungsstab, denen ich nicht wage, den Rücken zuzukehren.

Christina weiß zu wenig über die Umstände bei Winters und die Rolle, die ich innehabe. Was sie weiß, ist, dass es Kontrahenten gibt, die Elena und mir immensen Schaden zufügen können.

„Die übliche Leier. Wir müssen uns über gestern unterhalten. Was hast du dir dabei gedacht, eine nicht existente Maria Schrader vorzustellen?“

„Nichts“, gebe ich unverblümt zu und weiß, ich bin nicht vom Haken. „Das ist nichts, was ich am Telefon besprechen möchte. Kannst du zu uns kommen? Nach acht, dann schläft die Kleine. Ich muss zu Vertragsverhandlungen.“

Sie brummelt eine Bestätigung in ihren nicht vorhandenen Bart und verspricht, Snacks für uns mitzubringen, halte ich eine Flasche Wein für uns bereit.

Mein verstorbener Mann hatte den Hang dazu, alles im Überfluss zu besitzen. Autos, Immobilien, Kunstwerke und Wein. In seinem Weinkeller lagert kistenweise Wein. Damit könnte ich mich bis zu meinem Sterbetag in einen Vollrausch trinken. In den Weinkeller gehe ich allerdings selten, nach meinem Dafürhalten überhaupt nicht. Für meine Freundin springe ich über meinen Schatten.

 

Nach anstrengenden Vertragsverhandlungen kehre ich am Nachmittag an meinen Schreibtisch zurück. Bis die Kita schließt, bleibt mir eine halbe Stunde. Das gibt mir Gelegenheit, mein Mailpostfach zu checken und abzuarbeiten.

Ich hatte die IT angewiesen, einen E-Mailaccount für Maria Schrader anzulegen und mein altes, blondes Porträt auf die Website zu laden. Wir haben gestern nicht im Detail darüber gesprochen, allerdings gehe ich davon aus, dass Sprotty sich wegen des Praxissemesters bei Maria meldet. Er ist nicht dumm. Entweder spricht er seine Kommilitonin an oder er recherchiert über die Homepage die gängige Form unserer Mailaccounts und schreibt Maria. Ich tippe auf die Recherche im Internet. Zur Sicherheit habe ich Christina eine E-Mail-Adresse gegeben, die sie Sprotty mitteilen kann. Gleichzeitig habe ich nach seinem bürgerlichen Namen gefragt.

Das Postfach von Maria Schrader ist leer, mein eigenes quillt über. Ich überfliege die Nachrichten. Eine sticht heraus, auf die ich großen Wert lege.

Auf meine Initiative haben wir eine Art Stipendium für sozialschwache Schüler und Studenten etabliert. Es ist mir ein Anliegen, dass talentierten Schulabgängern nicht aus Mangel an finanziellen Mitteln der Traumberuf verwehrt bleibt. Das Programm, das wir mit der Personalabteilung entwickelt haben, steht vor dem Abschluss. Im vergangenen Herbst konnten wir im normalen Ausbildungssektor erstmals Schulabgänger dafür rekrutieren. Inzwischen ist das Programm für Studenten ausgereift und wir sind an die Universität herangetreten, um die Details zu finalisieren. Zwar tangiert es die Uni nicht sonderlich, wer die Gelder bezahlt, aber ich möchte eine enge Kooperation, um eine erfolgreiche Ausbildung zu gewährleisten ist.

Die Mail, die mein Interesse erregt hat, befasst sich mit diesem Thema. Mein Personalreferent hat ein Kick-off an der Uni vereinbart und hakt nach, ob er die Verantwortlichen zu einem Gegenbesuch einladen soll. Präsident Professor Dr. August Ebersbacher ist mir persönlich bekannt und ich weiß, er wird sich gerne bei uns umsehen. Hauptsächlich wird es um Wirtschaftsstudiengänge gehen. Wir haben zusätzlich andere Branchen, die wir unterstützen wollen. Ein Grund an der obersten Hierarchieebene anzusetzen. Ich signalisiere mein Einverständnis und bitte ihn alles zu organisieren.

Wie stets um diese Zeit klopft es und die Tür wird verzögerungslos aufgerissen.

„Wir müssen los“, bellt mein ungebetener Gast schroff.

Sundermann ist ein Relikt, das mir mein Mann vererbt hat. Er ist Sicherheitsbeauftragter des Unternehmens und unser Bodyguard und Chauffeur. Eine testamentarische Verfügung zwingt mich dazu, ihn in meinen Diensten zu lassen. Er ist der Letzte, dem ich mein Wohlbefinden anvertrauen würde. Die Loyalität, mit der er meinem Mann gedient hat und die Demütigungen, die ich durch ihn erlitten habe, drehen mir den Magen um. War sein Chef nicht anwesend, war er mein Bewacher. Jeder seiner Blicke vermittelte mir unterschwellig, dass er meine Geheimnisse kennt.

Wann immer es geht, entziehe ich mich seiner Obhut. Kommt die Kleine ins Spiel, bin ich wegen der gleichen testamentarischen Verfügung eingeschränkt und akzeptiere notgedrungen seine Anwesenheit.

Mit meiner Tasche folge ihm zum Aufzug. In eisigem Schweigen starren wir unsere Schuhspitzen an. In der Tiefgarage steige ich in den Fond des gepanzerten Wagens, um mich zur Kita chauffieren zu lassen.

 

Elena flitzt, umringt von den anderen auf dem Gelände herum. Hanna, ihre beste Freundin, ist dicht an ihrer Seite. Ich bleibe sitzen und erfreue mich an dem fröhlichen, ungezwungenen Spiel. Der Name Winters schreckt ab und ihre Kameraden dürfen, sollen oder wollen uns nicht besuchen. Hannas Eltern bilden eine Ausnahme. Sie gehen unbefangen mit uns um, was mich hauptsächlich für Elena freut, denn sie hatte Hanna von Anfang an ins Herz geschlossen.

In ein paar Minuten schließt die Kita. Ich steige aus dem Wagen. Die unterschiedlichsten Emotionen huschen durch ihr Gesicht. Sie war seit gestern von mir getrennt und freut sich riesig. Indes realisiert sie, dass ihr Abschied von Hanna bevorsteht. Traurigkeit gleitet über ihre Züge und sie wankt. Letztlich überwiegt die Freude, mich zu sehen und sie rennt mit wedelnden Ärmchen auf mich zu.

„Mama!“, ruft sie und wirft mich in meiner knienden Position fast um. „Hanna will mich suchen.“

„Versteck dich schnell“, schlage ich vor und sie wirkt irritiert.

„Im großen Haus.“

Ich grüble. „Du meinst besuchen.“ Hanna hat sich zu uns gesellt und grinst mich fröhlich an.

„Was haltet ihr davon, wenn ich ein Spieldate für euch vereinbare und wir Hanna demnächst nach der Kita mitnehmen?“

Die Mädchen brechen in Jubelstürme aus und ich muss unwillkürlich mitlachen.

„Sundi fährt uns, gell?“

Steif erhebe ich mich und zwinge mich zu lächeln. Ich bin nicht länger mit ihr allein. Sundi steht hinter mir. Ein Stück entfernt, damit die anderen Kinder sich nicht vor ihm fürchten. Trotzdem hat sie ihn entdeckt. Unter anderen Umständen könnte ich über den Spitznamen, der in kein bisschen zu ihm passt, schmunzeln. Geht es um ihn, gibt es allerdings nichts zu lachen.

„Wir müssen los. Lass und deine Tasche packen.“

Sie reicht mir ihre zierliche Hand, zieht mich zu Hanna, umarmt sie und schleift mich zu dem Platz, an dem sie ihren Rucksack liegen hat.

Wir gehen zum Auto und ich schnalle sie an.

„Wo möchten Sie hin, Allegra?“, erkundigt sich unser Chauffeur. Ich hasse die persönliche Anrede, ich hasse alles an ihm, obwohl er für Elena sein Leben geben würde.

„Zur Villa.“

Er fährt los. Ich widme mich dem Geplapper meiner Tochter, die mir von Oma und Opa berichtet und von dem, was sie mit Hanna in der Kita erlebt hat. Sie hat die Finger bunt angemalt und erzählt mir von den Kunstwerken, die sie entworfen hat.

„Gibst du mir eins, dass ich ins Büro hängen kann?“

„Au ja!“, jubelt sie und öffnet den Reißverschluss ihres Rucksacks.

„Das kannst du ins Bro hängen“, quiekt sie und kramt einen Rahmen hervor.

Das Bild lässt mir das Blut in den Adern gefrieren. Am ganzen Körper bebend ringe ich mit meiner Beherrschung.

„Das hat Oma mir gegeben. Das ist mein Papa, der im Himmel ist und du.“ Das Gefühl zu ersticken, wird übermächtig.

„Mama, oder können wir das Bild neben mein Bett tun?“

Eine Antwort scheitert an dem Kloß in meinem Hals. Erschüttert starre ich auf das Bild.

Welche Absichten verfolgen sie?

„Was hast du für ein Bild?“, fragt Sundermann.

Irritiert schaue ich auf. Unser Blick begegnet sich im Innenspiegel. Ich hasse ihn.

„Eins mit Mama und Papa, die knutschen“, verkündet sie unbefangen. „Gell Mama?“

„Ja“, kehrt meine Stimme zurück, „ein Bild von deinem Papa.“

Die Frau auf dem Foto bin nicht ich, es ist meine Schwester. Sie stehen vor türkisblauem Wasser unter Palmen an einem Strand und posieren küssend in die Kamera. Der Ansatz eines Babybauchs ist sichtbar und jeder ist der Auffassung, ich stehe an Svens Seite. Die wenigsten kennen die Wahrheit.

Wir parken auf der gekiesten Einfahrt. Ich lege das Bild auf den Sitz und gehe um den Wagen, um Elena abzuschnallen. Sie springt aus dem Auto. Vergeblich habe ich darauf spekuliert, dass unsere Ankunft sie ablenkt.

„Du musst das Bild mitnehmen!“, ruft sie tränenerstickt. Ich straffe die Schultern und knie mich zu ihr. Wie soll ich ihr erklären, warum ich diesen Urlaubsschnappschuss keinesfalls täglich sehen möchte?

„Ich hänge es deiner Mama ins Büro. Was hältst du davon?“, wird meine Suche nach der geeigneten Ablehnung von dem Hünen schräg hinter uns unterbrochen. Es ist zu befürchten, dass er das Bild tatsächlich aufgehängt wird. Vorläufig habe ich es immerhin nicht vor Augen.

„Jaaaa!“, schreit sie und umklammert seine Beine. Er hebt sie hoch, zerzaust ihre Löckchen und setzt sie wieder ab. Sie sprintet die Treppen hinauf und wird von unserer Haushälterin Lilly begrüßt.

Beim Gehen fasst Sundermann mich am Arm. Alles in mir schaltet auf Abwehr. Zu oft hat er mich in Situationen berührt, die einem Mitarbeiter nicht zustehen.

„Wer ist die Frau auf dem Foto?“

Muss er mich wirklich demütigen? Er war in die Machenschaften meines Mannes eingeweiht und kannte jedes widerwärtige Detail. Was bezweckt er?

„Sie hat einen Bikini und eine durchsichtige Tunika an“, erwidere ich bissig und will gehen.

„Was hätten Sie ihr erklärt, wäre ich nicht dazwischen gegangen?“

„Spielt das eine Rolle?“

„Nein, sie muss nichts von alledem erfahren.“

Ich nicke ihm zu und gehe hinein. Wenigstens ein Punkt, in dem wir uns einig sind.

 


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