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Ein Paulchen stand im Walde

Ein Paulchen stand im Walde · Romane

Ein 407jähriger, lebensmüder Ur-Apfelbaum in Zentralasien schöpft durch die Begegnung mit einer Mutter und ihrem Sohn wieder neuen Lebensmut

Was möchtest du mit dem Buch bewirken?

Ich möchte ein besseres Verständnis für die Natur schaffen und detaillierte Einblicke geben, wie komplex die Wirklichkeit eines Baumes möglicherweise sein könnte. Mein Antrieb als Autorin ist es, zwischen unterschiedlichen Positionen zu vermitteln. Der kasachische Urapfel steht als Sinnbild für Beständigkeit, Veränderung und seine Fähigkeit, sich auszudrücken, so dass ihn auch Lebewesen, die nicht seine Sprache sprechen, verstehen. Bäume, die uns Menschen gar nicht so unähnlich sind, haben so vieles zu erzählen. wovon wir lernen können. Sie bewegen sich in Symbiose mit ihrer Umwelt und können in Gemeinschaft vieles erreichen. Ich will Menschen dafür begeistern, welche Geheimnisse in Bäumen stecken,. In meinem Buch können sie in das Innenleben dieses ganz besonderen Apfelbaums abtauchen, erfahren wie er sich durch die Jahreszeiten bewegt und welche Fragen er sich zum Sinn des Lebens oder anderen wichtigen Fragen des Lebens stellt. Mir ist wichtig in unseren Zeiten, in der sich Positionen massiv verhärtet haben, klarzumachen, dass es trotz scheinbar unüberwindlicher Barrieren immer Möglichkeiten der Kommunikation gibt und wie wichtig gegenseitiges Zuhören und Verständnis ist, um sich einander anzunähern. Dass es sogar einem Baum gelingt, mit zwei Menschen in Dialog zu treten, soll symbolisieren, dass es diesbezüglich keine Grenzen gibt, wenn Wunsch und Wille, sich zu begegnen, vorhanden sind.

Über den/die Autor:in

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Zu Beginn der Corona-Pandemie habe ich das Schreiben für mich entdeckt. Ich bin eine Leseratte, ein Buchfink, ein Fabelei und spiele gerne mit Sprache und Worten. Zusammen mit meinem Mann habe ich im ...

März 1991

1.    Winterlicher Zauber

Ich war einmal ein stolzer wilder Apfelbaum. Ein Apfelbaum in Zentralasien. In der Sowjetunion. Genauer in Kasachstan. Noch genauer in der Region Alma Ata. Unterhalb der ewigen Schneegrenze des schier unüberwindlichen Tien Shan Gebirges. Von all dem wollte ich allerdings nicht mehr allzu viel wissen. Ich war schließlich ein Apfelbaum. Ein Apfelbaum unter einer Million anderer Apfelbäume. Nur ein einfacher, alter, mittlerweile sogar uralter, Apfelbaum. Inmitten von dichtem Hagedorngebüsch, mannshohen Brennnesseln, wildem Hopfen und stacheligen Brombeersträuchern.

Im Sommer, nachdem ich mich so sehr sehnte, war ich umgeben von Kräutern und Blumen. Trotz sengender Sonne ertrug ich die manchmal entsetzliche Hitze demütig und ohne Murren. Die warme Jahreszeit war voller Leben und Genuss. Die kalte hingegen schien gerade jetzt kein Ende nehmen zu wollen. Ich war einsam. Schrecklich einsam. Im vergangenen Winter war ein Stück von mir gestorben. Mehr im übertragenen Sinn und doch betrübte mich der Verlust mehr, als ich vermutet hätte. Ein Teil, der mich von Anbeginn begleitet hatte, war tot: Mein stummer Zwilling. So hatte ich den mickrigen Stamm genannt, der sich jahrhundertelang wie mir zugehörig an meine Silhouette geschmiegt hatte. Seine vertrocknenden Überreste hingen an mir wie hartnäckige Kletten.

Oft hatte ich den mageren Apfelbaum, der sich zur gleichen Zeit wie ich aus einem anderen Samen gedrückt war, verdammt. Er mochte zwar nicht mit mir kommunizieren, nahm sich aber heraus, so viel mehr Platz in der Erde zu beanspruchen, als ihm durch seinen armseligen Wuchs an der Oberfläche je zugestanden hätte. Sein unflätiges Benehmen und seine Rücksichtslosigkeit hatten mich immerfort empört und doch hatte ich ein halbes Jahr um ihn getrauert. Auch wenn er sich Zeit seines Lebens mir gegenüber ignorant verhalten hatte, war er doch zu einem Freund, einem liebgewonnenen Begleiter geworden.

Sein Gerippe, das manchmal im Wind gespenstisch klapperte, an mich gedrückt zu wissen, ließ mich an manchen Tagen frösteln und an anderen Gemeinschaft spüren. Denn ich kämpfte mit dem Alleinsein. In den letzten Wintertagen ohnehin, wenn alle Zugvögel in ihre Sommerquartiere flogen und die, die in den Süden gereist waren, ihren Weg noch nicht zurückgefunden hatten. Schon viel zu lange streckte ich meine unzähligen Äste kahl in den eisigen Winterwind. Mittlerweile waren sie recht knorrig, teilweise befremdlich verformt. Unansehnlich und um alles, was mir lieb und teuer war, beraubt, fühlte ich mich in dieser nackten Dunkelheit des Lebens oft mehr als müde. Hatte mein stummer Zwilling, indem er einfach stillschweigend ging, die richtige Entscheidung getroffen? Lohnte es sich nicht mehr, das Leben zu bejahen? Der Winterzeit zu trotzen und die Kälte, die sich um meine Stammmitte ausgebreitet hatte, für immer auszuschließen? Sollte ich mich einfach dem unerbittlichen Frost ergeben? Die heulenden Stürme, die er mit sich brachte, und in denen ich feindselige Botschaften erkannte. Ich selten fühlte ich mich wie angegriffen, wenn sie über mich fegten an meinen Ästen und Zweigen gnadenlos rissen, sich an mir festbissen als hätten Sie Zähne. Griffen sie nicht mit ihren Krallen und Klauen nach mir und auch meiner Seele?

Wie gerne hätte ich mich in einen wärmenden Fellmantel gehüllt, wie ihn der kleine Junge heute trug. Der kleine Junge, der mich in meiner spätsommerlichen Pracht entdeckt hatte. Letzten Herbst war das gewesen. Von da an, hatte er mich bis zum Einbruch des ersten Frosts täglich besucht und mir über die Trauer um meinen stummen Zwilling hinweggeholfen. Selbst der herannahende Winter, der erste, den ich alleine zu bewältigen hätte, hatte mir keine Angst eingeflößt. Dennoch hatte ich mich so ausdauernd wie lange nicht mehr gegen das zu dieser Jahreszeit unumgängliche Vergehen gesträubt. Ich wollte die Momente mit diesem Jungen, der mir über die Wochen so eng an meine Stammmitte gewachsen war, auskosten, in die Länge ziehen.

Nur äußerst widerwillig ließ ich mir in jenen Tagen mein sich in allen Gelb- und Rottönen verfärbendes Laub abtrotzen. Ungnädig hatte die Kraft der Herbststürme täglich zugenommen. Meine Lebensenergie war mir im wahrsten Sinne des Wortes entrissen worden. Doch ich hatte unerbittlich Widerstand geleistet. Irgendwann sah ich aber ein, dass alles nichts half. Ich musste mich dem ewigen Kreislauf der Jahreszeiten fügen, mich ihnen unterwerfen. Neuerdings verdammte ich den Fluss der Zeit – statt meines stummen Zwillings. Ich schmähte diese unnötige Veränderung als Beschneidung meiner Lebendigkeit. Ja, so war es gewesen, als sich das vergangene Jahr dem Ende zugeneigt hatte und die Besuche des Jungen weniger wurden. Immer mehr Sonnenstunden wurden mir und meinem Gast einfach gestohlen. Jeder neue Tag beraubte mich früher um die Gesellschaft des liebgewonnenen Blondschopfs. Wie ein in den Zwinger gesperrter Hund litt ich daran. Schließlich hatte ich mich nur zu bereitwillig an die regelmäßige Anwesenheit des Zweibeiners gewöhnt.

Dass der in diesen Breitengraden so frostig zuschlagende Winter mir den Jungen ganz nehmen würde, war mir durchaus bewusst. Wie lange würde er es sich nach der Schule noch auf meiner Wurzel gemütlich machen? In den letzten Jahren hatte mein unterirdisches Gehirn mehr und mehr an die Oberfläche gedrängt. Mein toter Bruder war stärker als ich gewesen. Er hatte sich im Erdreich behauptet, während ich andere Wege suchen musste, damit mir meine Lebensstränge nicht abgeschnürt wurden. Heute dankte ich meinem stummen Zwilling, dass er meine Wurzel dazu gebracht hatte, auf wundersame Weise so zu wachsen, dass sich eine Art Bank formen konnte. Das von mir schon lange als lästiger Wildwuchs empfundene Anhängsel erfuhr eine gänzlich neue Nutzung. Dieser Umstand freute mich sehr und ehrte in ganz besonderer Manier seinen verstorbenen Schöpfer.

Das Wissen darum ließ auch meine Lebensgeister auf bemerkenswerte Weise zurückkehren. Noch vor kurzer Zeit wollte ich sie einfach für immer aushauchen. Oft saß der junge Besucher auf meiner wurzeligen Sitzgelegenheit. Dabei lag ein dickes, zerschlissenes Notizbuch auf seinen im Schneidersitz angewinkelten Beinen. Nicht selten hatte er ein Messer dabei und schnitzte Holzfiguren, die er vorher auf Papier entworfen hatte. Dann versank er ganz in seinem Tun. Vladimir hieß der Junge.

Manchmal begleitete ihn seine Mutter. Viel zu selten für meinen Geschmack. Sie hatte eine sinnliche Stimme und die unnachahmliche Gabe, Worte mit Bildern zu erfüllen. Die Frau war in der Lage, ihre Gedanken meisterhaft in Form und Farbe zu gießen. In manchen Augenblicken wurden sie schier lebendig. So in jeder Faser lebendig, wie ich mich fühlte, wenn Vladimir und seine Mutter bei mir waren. Ich, der damals noch namenlose, stille Beobachter und Zuhörer. Insbesondere wenn sie ihrem Sohn aus einem ganz besonderen Buch vorlas, hing ich an den Lippen der begnadeten Erzählerin wie ein Ertrinkender an seinem verblassenden Leben.

Mein Leben war aber ganz und gar nicht am Verblassen. Im Gegenteil. Die Gesellschaft der beiden Menschen ließ mich geradezu wieder aufblühen. Längst wollte ich meinem stummen Bruder nicht mehr folgen und aus dem Leben scheiden. Nein, ganz im Gegenteil. Ich wollte es festhalten und nähren. Meine über viele Monate missachtete, ja unterdrückte Lebenskraft war mit einem Paukenschlag – oder sollte ich lieber sagen mit einem weiblichen Augenaufschlag der besonderen Art – zurückgekehrt.

Vladimir und seine Mutter hatten sich aufgrund der bitteren, alles durchdringenden Kälte in den letzten Wochen zwar nur spärlich in meine Nähe gewagt, dennoch hatte ich keinen Zweifel, sie wiederzusehen. Nach einem zugegeben sehr strengen Winter, der mir so tief in die Wurzeln gefahren war wie selten einer zuvor, hielten nun zarte Frühlingsboten Einzug. Endlich brach der Tag an, an dem ich nach einer schier endlosen, trägen Pause wieder gierig Wasser in mich aufsaugen durfte. Ich spürte, wie die Temperaturen merklich anstiegen, die Sonnenstunden wieder mehr wurden. Es war Zeit, mich aus der Winterruhe zu lösen, wieder zu erwachen und jede Faser meines trägen Seins zu beleben.

Ich verging fast vor Lust, auszutreiben. Der Druck auf meine sich prall mit Wasser füllenden Wurzeln brachte mich in Wallung. Unendlich lebendig umschmiegte süßer Frühlingshauch meine blätterlose Silhouette. Er spornte mich an, all meine Kräfte zu mobilisieren. Mein Streben galt nun allein der Erneuerung. Wasser, mein nun wieder reichhaltig in flüssiger Form vorhandenes Lebenselixier, wollte sich durch meinen mächtigen Stamm bewegen, alle Windungen durchströmen, meinen eigenwilligen Drehwuchs, der sich über die Jahre verselbständigt hatte, durchfluten. In meiner Sehnsucht nach Sonne, die in mir stärker als jedem anderen Baum, den ich gekannt hatte, war, hatte ich mich den Fängen meines stummen Zwillings entziehen wollen und hatte mich absichtlich mehr und mehr von ihm und seiner erdrückenden Krone weggedreht. Doch erst als er starb und alles Grün an ihm von sich stieß, konnte ich wieder atmen. Atmen wie in diesem Moment.

Ich lechzte danach, das Wasser hinauf in meine durstigen Zweige zu pumpen. Meine Äste fühlten sich noch ganz steif, ja tot, an. So tot, wie mein stummer Bruder, der sich an mich klammerte, als könnte ich ihn retten. Ich schüttelte den Gedanken ab und lenkte mich damit ab, wie schön es war, mich wieder voller Wonne im Frühlingsduft zu wiegen. Diesen unwiderstehlichen Duft einatmen – so leicht und frisch. Allerdings mischten sich in diesen Wohlgeruch zwei andere Noten. Ich roch die innere Fäulnis, die der tote Baum, der mich immer noch fest umschlungen hielt, verströmte. So sehr ich es auch wollte, ich entkam diesem strengen Aroma nicht. Bilder, die in mir aufstiegen, kämpfte ich jedoch ohne Pardon nieder. Ich schüttelte mich sanft und versuchte den zweiten, durchaus ähnlichen Geruch wahrzunehmen, ihn herauszufiltern.

Außerdem schnupperte ich Herbstlaub. Kraus und vollmundig lag es ausgebreitet um meinen über so viele Monate zur Untätigkeit verdammten Stamm. In tiefster Winterkälte war es mein knisterndes Blattwerk gewesen, das mir in meiner Einsamkeit wohlig Wärme gespendet hatte. Wie alle Jahre zuvor hatte mich diese natürliche Schutzschicht zärtlich umspielt. Sie hatte mich gerade als die Tage immer dunkler geworden waren und mich der Verlust jeglicher Gesellschaft zu übermannen drohte, getröstet. Und doch hatte ich mein Herbstkleid dieses Mal nicht freiwillig abgeworfen. Alles in mir hatte sich gewehrt, hieß der sich dadurch ankündigende Winter vor allem, die mir so wohltuende menschliche Nähe aufzugeben. Nun lag die eintönige, abgeschiedene Zeit hinter mir. Weder Vladimir noch kaum ein anderes waches Lebewesen hatten sich über Wochen zu mir getraut.

Ich hatte mich total isoliert gefühlt. An einem kahlen Zweig konnte ich abzählen, wie oft in diesem unendlichen Winter eines dieser frechen Eichhörnchen an mir hinaufgesaust war. Wie gerne spürte ich ihre scharfen Krallen, wie sie meine spröde Rinde kraulten. In meiner blätterlosen Nacktheit bedachten mich ihre samtig-weichen Silhouetten mit inniger Körperwärme. Es fühlte sich so unbeschreiblich an, wenn in den düstersten Momenten aus Eis, Nebel und Einsamkeit so ein flauschiger Vierbeiner entlang meiner Borkenschuppen rubbelte. Wie sehr mochte ich es, wenn gar ein Zweierspiel um meinen Stamm sauste, meine dicke borstige Rinde dem hitzigen Pärchen genug Halt geben konnte, um ihre Ausgelassenheit auszuleben. Beim puren Gedanken an diese Liebkosungen liefen mir unzählige, wonnige Schauer über meine gesamte Oberfläche. Bis in die letzten Astspitzen dehnte sich dieses Wohlgefühl aus.

Aber genug des Winters. Ich spürte meine Lebensgeister wieder. Es war Frühling. Endlich Frühling. Der Beginn allen Werdens. Ich liebte besonders die Morgenfrische dieser Jahreszeit, wenn der Tau in meinen Knospen hing. Nicht länger waren sie unter Unmengen Schnee begraben. Wie üblich hatte ich die feinen Blütenansätze aus dem letzten Sommer unter Aufbietung all meiner Kräfte über den strengen Winter hinweg in den nun beginnenden Frühling gerettet. Eine Extraportion Zuckerlösung war darin eingelagert. Ein zarter Wind streichelte meine wiedererweckte Gestalt in den frühen Morgenstunden – genau jetzt, da die Luft so klar und herrlich in all meine Poren drang, sich mein ganzes Wesen damit anreicherte.

Und diese lockere, fein duftende Erde um mich herum. Wie genoss ich das Gefühl der Befreiung. Meine Beklemmung, ja, diese unangenehme, fast schmerzhafte Einengung im eisigen Untergrund, hatte sich sanft und leise aufgelöst. Endlich spürte ich wieder meine grenzenlose Freiheit, konnte mich in alle Richtungen recken und strecken, mich überall hin ausdehnen, wonach es mich dürstete. Meine Wurzeln, die sich nicht länger in der eisigen Umklammerung gefangen fühlten, sondern erneut wie Fühler in die Erde vordringen konnten. Ich streifte kleine Lebewesen, touchierte sie sanft, wie sie emsig mein Wurzelwerk bevölkerten. Leben, das sich im ewigen Kreislauf des Vergehens und Werdens hier unten endlich wieder regte und meine empfindsamen Tentakeln förmlich streichelte. Tentakeln? Was für ein Wort. Ich hatte es noch nie in meinen stillen Dialogen gebraucht. Wo kam es her? Tu nicht so, als würdest du grübeln, schalt ich mich. Du weißt genau, wo du dieses Wort aufgeschnappt hast. Aufgeschnappt. Auch kein Begriff, den ich benutzte. Und ja, natürlich, wusste ich, wo mein neuer Wortschatz seinen Ursprung hatte. Der neuerliche Umgang mit Menschen war der Auslöser. Und ein Buch. Ein Foliant – noch so ein Wort.

Vladimirs Mutter kam mir in den Sinn. Mit übermächtiger Präsenz nahm sie mein Denken so plastisch, so real, so einnehmend gefangen, dass ich fast vergaß zu atmen. Ohne meine Blätter fiel mir das ohnehin schwer. In meinen jungen Jahren war der Frühling stets meine liebste Zeit gewesen. Jetzt konnte ich meine Lebensadern wieder mit Sauerstoff füllen, die Photosynthese mit all ihrer Raffinesse ankurbeln. Plötzlich empfand ich den eigenständigen Ablauf dieses elementaren, tief verinnerlichten Prinzips als fantastisch neu. Das unabwendbare Funktionieren dieses Prozesses war so ungewohnt für mich, als wäre mir seine Selbstverständlichkeit über die vielen Monate meiner Winterruhe schlichtweg entfallen. Ich kam mir fast verloren vor. Überfordert in der Wiederaufnahme dieser urtümlichen Eigenheit meines Seins. Und so verfiel ich in meine selbstvergessene Bequemlichkeit. Ich konzentrierte mich einzig und allein auf jeden meiner Atemzüge. Gleichzeitig erlangte ich meine Souveränität, die gerade so heftig durch den bloßen Gedanken an Vladimirs Mutter ins Wanken geraten war, zurück.

Vorsichtig riskierte ich noch einen Versuch. Ein weiteres Mal verschlug es mir den gerade wiedergewonnenen Atem, als ich erneut glühend an die ungewöhnliche Frau dachte. Ein stattliches Weib würde man wohl in dieser Gegend sagen. Und ich meinte das nicht abschätzig. Sie war füllig, sogar üppig. Ihre Figur würde ich als ausladend beschreiben. So wie meine, wenn ich Früchte trug und meine Äste zum Bersten voller Äpfel hingen. Dicht an dicht. Duftend. Unendlich süß. Unendlich reif. Unendlich begehrenswert. So wie Vladimirs Mutter.

Sie, dieses in meinen Augen fast engelsgleiche Geschöpf, übte eine derartige Anziehung auf mich aus. Etwas Vergleichbares hatte ich noch nie in Gegenwart eines anderen Lebewesens gespürt. Und es war nicht allein ihr Körper, der mich so sehr in Wallung versetzte, so sehr becircte, so sehr in den Bann schlug. Es war vielmehr ihr Charakter. Ihre Sanftheit, die sich binnen Sekunden ins Aufbrausende wandeln konnte. Ihr Feingefühl, mit dem sie sich Millimeter um Millimeter auf neues Terrain vorwagte. Ihre Aufrichtigkeit, die sich in Hingabe und einem tiefen Verständnis für das, was sie umgab, äußerte. Ihre unbändige Kraft und gleichzeitige Leichtigkeit, die all ihren Worten und Taten innewohnten. Ihr Zorn, der maßlose Formen annehmen konnte. Bei der einen oder anderen Gelegenheit hatte ich schon miterlebt, wie grenzenlose Wut unkontrollierbar aus ihr herausschäumte. Am meisten verehrte ich aber ihre Milde. Ja, ihre sanftmütige Herzlichkeit, die sich in allen Gesten manifestierte, mit denen sie Vladimir – und unentdeckt im Stillen auch mich – bedachte. Und dann war da diese Ruhe, die mir unbegreiflich schien. Durch ihr vielschichtiges Wesen vermochte sie auch eine natürliche Gelassenheit auszustrahlen. Unendlicher Frieden lag diesem Gefühl zugrunde. Unaufgefordert übertrug er sich einfach auf mich. Wie ein Schleier aus Zuversicht und Harmonie legte er sich über mich, schmiegte sich an und schenkte mir Geborgenheit. Tief in meinem Inneren schmeckte ich diese Frau sogar. Ich labte mich an ihr, konnte völlig loslassen und dennoch ganz in ihr und mit ihr aufblühen.

Vor allem aber war Vladimirs Mutter eines für mich: Abenteuer. Grenzenloses Abenteuer. Sie verstand es, mich aus meiner mir manchmal viel zu engen Erde zu zerren. Sie konnte mich einfach an einen anderen Ort verpflanzen, mich in Gefilde davonschweben lassen, in die sicherlich noch nie ein Apfelbaum – auch nicht der wagemutigste in seinen kühnsten Träumen – vorgedrungen war. Sie weckte eine unstillbare Sehnsucht in mir. Geführt von ihrer meisterlichen Hand wollte ich mich stets in noch fremdere Regionen wagen. Einerseits fühlte ich mich in meinem angestammten, mir so vertrauten Territorium unendlich daheim, andererseits spürte ich auch eine beklemmende Leere. Die toten Wurzeln meines stummen Zwillings waren schlaff geworden. Früher hätte ich gesagt, sie hatten mich beengt. Nun war ich der Meinung, dass sie mir Halt gegeben hatten. Ich wollte die entstandene Lücke füllen oder mich ihr augenblicklich entreißen. Und es war da noch etwas anderes. Ein nie gekanntes Verlangen, das mich einlud, Neuland zu erkunden.

Dieses Energiebündel von Frau verlieh mir Flügel. Ich reiste an Schauplätze der eindrücklichsten Begebenheiten, ohne auch nur einen Zentimeter Boden zu lassen. Die Erzählgewalt von Vladimirs Mutter suchte ihresgleichen. Ihr Sohn bat nicht ohne Grund ständig darum, dass sie weitererzählte oder weitervorlas. Wie dankbar war ich diesem Jungen. Selbst nach Stunden unentwegten Sprechens erbettelte er noch eine letzte, eine allerletzte Geschichte von seiner Mumi. Das war das mongolische Wort für Mama, wie ich von anderen Begebenheiten her wusste. Oft bis das Tageslicht zu schwinden begann. saßen die beiden die Welt um sich herum vergessend auf meiner Wurzel. Auf der Bank, die mein toter Bruder geschaffen hatte. Die Stimme von Vladimirs Mutter wurde erst kratzig, dann heiser. Zum Schluss brachte sie nur noch ein Krächzen hervor. Nicht nur einmal hasteten die zwei Menschen eilig davon, wenn die Sonne viel zu plötzlich und für sie gänzlich überraschend den Horizont streifte. Jedoch gingen sie nie grußlos, ohne mir einen letzten Blick zuzuwerfen und ein „Bis bald“ an mich zu richten.

Mit einem Schaudern, das sich bis in die letzten Zweigspitzen ausbreitete und meiner zarten, noch gänzlich geschlossenen Knospen erzittern ließ, erinnerte ich mich an die letzte Begebenheit mit den beiden. An jenem milden Wintertag hatte Vladimirs Mutter nur anfänglich vorgelesen und dann aus dem Kopf eine Geschichte erzählt. Es hatte nur einige Minusgrade. Die schöne Gestalt der Frau war eingehüllt in ihren dicken, blauen Wollmantel. Ihr Sohn hatte es sich im Schneidersitz auf einem auf meiner Wurzel ausgebreiteten Schaffell gemütlich gemacht. Die begnadete Erzählerin begann mit einem Flüstern. Bald merkte sie, dass ihre sanfte, weiche Stimme gegen einen kräftigen Wind ankämpfte, Der geräuschvolle Luftstrom brachte meine Äste zum Knacken. Meine Zweige peitschten heftig gegeneinander. Diese lautstarke Untermalung passte sehr gut zur Stimmung, in die uns Vladimirs Mutter gerade entführte. Sie schaute nicht in das Buch, das auf ihrem Schoss lag, sondern schilderte die Begebenheiten aus dem Stehgreif.

Wir waren auf hoher See. An Bord eines vom Sturm der letzten Nacht gebeutelten Schiffs, dessen zerfetzte Segel immer wieder im dichten Nebel abtauchten. Einst war der in die Jahre gekommene Kahn ein stolzer Segler gewesen. Er hatte die Überfahrt zwischen Aqtau und Baku schon viele Male gemeistert. „Professor Gül“ hieß die ältliche Dame, deren stumme, unentdeckte Begleiter wir waren. Gül. Ein schöner Name. Ein blumiger Name. Vladimirs Mutter hauchte ihn in die klare Luft. Ihr Atem, den die Winterkälte sichtbar machte, waberte zu mir herüber. Der liebliche Hauch, mit dem sie „Gül“ intonierte, verlor sich an meinem sprichwörtlich in Flammen stehenden Stamm. Augenblicklich wärmte, ja erhitzte er mein Innerstes. Ich war erfüllt vom Duft dieses Namens. Ganz und gar eingenommen vom lieblichen Geruch blühender Rosen und der Stimme von Vladimirs Mutter.

Andächtig lauschte ich, wie die Frau vom gespenstischen Ächzen des abgehalfterten Kutters sprach. Wie die diensthabende Mannschaft sich anstrengte, die Nussschale auf Kurs zu halten. Wie den Männern der dritte Tag und die dritte Nacht in Folge in den Knochen saßen. Wie sie vor Entkräftung verdrießlich und übellaunig ihre Pflichten an Deck verrichteten. Wie der holzbeinige Kapitän sich über die unruhigen Planken hievte und hoch oben im Nebel das Knirschen eines Seils einen im Mastkorb hin- und herschaukelnden Matrosen vermuten ließ.

Schon längst war nicht mehr klar, wo im Kaspischen Meer wir uns befanden. Ein eisiger Sturm fegte über meterhohe Wellen, schubste die stolpernden Männer wie Spielfiguren von einem Ende des Kahns zum anderen. Wie bestätigend traf auch mich in diesem Moment eine Windböe und ließ mich im Hier und Jetzt frösteln. Vladimir und seine Mutter zogen ihre Mäntel enger an sich und rutschten näher zueinander, um sich gegenseitig Wärme zu schenken. Die Frau sah kurz auf, blickte in die ozeanblauen Augen ihres Sohnes und zerzauste seine strohblonden Haare. Der Junge kicherte und sagte bestimmend: „Lies weiter!“

Ein ebenfalls verstrubelter Kopf, dem ein nackter Oberkörper folgte, presste sich aus dem Unterdeck der Professor Gül durch eine schmale Luke. Der entgeisterte Blick des zugehörigen Matrosen und sein zum Schrei geformter Mund verhießen nichts Gutes. In wilder Panik schmetterte er dem sich ihm zudrehenden Kapitän entgegen: „Wassereinbruch! Wassereinbruch auf Achtern!“ Die Stimme von Vladimirs Mutter zitterte. Während ich mir schon die schlimmsten Szenarien ausmalte, vergingen bange sich wie Stunden anfühlende Sekunden. Meine Gedanken kreisten. Würden wir sinken? Würden wir ertrinken?, fragte ich mich in Todesangst.

Mit alte Zeiten heraufbeschwörendem Entsetzen kamen mir blitzartig Fluten von Schmelzwasser in den Sinn. Als wäre es gestern gewesen, erinnerte ich mich an einen Frühling vor unzähligen Jahrzehnten. Damals waren unaufhörlich Wassermassen in unvorstellbarem Ausmaß das Tien Shan Gebirge heruntergerauscht. Ihre Wucht hatte auch mich völlig aus dem Nichts getroffen. Wie ich waren viele meiner damaligen Apfelbaumgefährten, die ihren Platz ebenso verteidigten, stattliche fünfundzwanzig Meter in den Himmel geragt. Und doch hatte ich mitansehen müssen, wie jeder von ihnen mit roher Gewalt aus ihrem Wurzelbett gerissen worden war. Hilflos waren sie an mir vorbeigetrieben – wie achtlos in einen Fluss geworfene Grashalme. Während ich mit aller Kraft versucht hatte, mich im morastigen Boden festzukrallen, meine Baumkrone über Wasser zu halten und meinen gerade wieder erwachten Stoffwechsel in Gang zu halten, waren unzählige meiner Freunde ums Leben gekommen. Sie waren mir lieb und teuer gewesen. Mit ihnen hatte ich bereits Jahrhunderte Seite an Seite verbracht. Wir hatten vieles – im wahrsten Sinne des Wortes – miteinander durchgestanden. Sie mir waren treue Leidensgenossen, Weggefährten, Vertraute gewesen. Wie mein stummer Zwilling, der selbst in jenen aufwühlenden Zeiten, als nur die Zähsten übriggeblieben waren, der Außenwelt keinerlei Regung gezeigt hatte, egal, was ihn im vorgegangen war.

Ja, damals. Nur Erinnerungen. Längst gehörten meine einstigen Mitbäume und auch die Anständigkeit meiner Kameraden der Vergangenheit an. Heute schanzten mir die jungen Apfelbäume, die ihre Plätze eingenommen hatten, kein Wasser mehr zu. Obwohl wir – ihre Vorfahren und ich – alle verschiedenartig gewesen waren, keiner dem anderen geglichen hatte, war das für uns noch selbstverständlich gewesen. Stets hatten wir uns gegenseitig, so gut wir konnten, unterstützt. Für uns war es keine Frage gewesen, für einander einzustehen. Wenn die Sommer so trocken waren, dass nur zwei Arten von Bäumen noch Flüssigkeit aus den Tiefen des Erdreichs ansaugen konnten, dann teilten wir. Die Dürstenden wurden von denjenigen mit den längsten und talentiertesten Wurzeln versorgt oder von jenen, die begünstigter wurzelten als andere.

Wasser war in jedem Extrem lebensgefährlich. Zu wenig ließ einen ebenso tot zurück wie zu viel. Den Begriff „tot“, das mich aus meinen schweren Gedanken zu ebendiesem Thema riss, stieß Vladimirs Mutter derart kaltblütig und gleichzeitig atemlos aus ihrem Hals, dass mir angst und bange wurde. Was hatte ich verpasst, als ich meinen eigenen Gehirnwindungen gefolgt war, mich hatte von der Geschichte abtreiben lassen von Schmelzwasser? Wie sich herausstellte, war es nichts von Bedeutung. Denn Vladimirs Mutter wiederholte den letzten Satz des soeben an Deck gekrochenen Matrosen noch einmal mit entschlossenem Nachdruck: „Wenn der Morgen graut, sind wir alle tot.“ Noch ehe sie das Wort „tot“ wirklich ausgesprochen hatte, klatschten ihre beiden Hände schmerzhaft aufeinander. Sie ahmte den Klang einer Ohrfeige nach. Ich glaubte, die Härte des flach auf der Wange auftreffenden Schlags förmlich zu spüren. Sofort wurde ein Handabdruck auf dem sich rot färbenden Gesicht des verdatterten Crewmitglieds sichtbar. Der Unglückliche hatte seine Äußerung offenbar sehr unüberlegt – und zu lautstark – von sich gegeben. Ähnliches passierte wohl nicht zum ersten Mal. Der Kapitän duldete keine Furcht.

Der Ranghöhere schäumte vor Zorn. Wie selbstverständlich schlüpfte Vladimirs Mutter in die Rolle des aufbrausenden Seebären. Die hingebungsvolle Darbietung wirkte vollkommen. Nein, mehr noch: Sie war wahrlich bühnenreif. Vladimir begann, in heller Begeisterung zu applaudieren und zu jubeln. Ich spürte, seinen Körper auf meiner Wurzel vibrieren. Stumm stimmte ich in seinen Beifall mit ein. Die Frau konnte so wütend werden und im nächsten Moment die Sanftheit selbst sein. Wahrhaftig: Welche außergewöhnliche Persönlichkeit! Welches Talent!

Nun begann Vladimirs Mutter in der Rolle Schiffsführers, den die Mannschaft demoralisierenden Matrosen verbal auszuschimpfen. Dabei hob sie das Buch, in das sie heute kaum einen Blick geworfen hatte, vom Boden auf. Es war ihr, als sie aufgesprungen war, um die Backpfeife zu simulieren, vom Schoss geglitten. Bei Vladimirs Mutter klang es eigentlich nie, als würde sie vorlesen oder zitieren. Alle ihre Sätze waren emotional aufgeladen. Sie wirkten authentisch und lebensnah. Wie sie sprach, war ganz und gar aus der Situation geboren. Sie fühlte sich voll in diese hinein, gab sich selbst auf – lebte nur im und für diesen Moment.

Gerade humpelte die in Fahrt geratene Frau vor meiner Wurzel auf und ab. Sie bückte sich und bekam den kräftigsten meiner abgebrochenen, wie achtlos zu Boden geworfener Äste zu fassen. Der schwere, nasse Schnee hatte mir vorletzte Nacht so einiges abgetrotzt. Meinen abgetrennten Stumpf nutzte die begnadete Schauspielerin, um die ungelenken Schritte, mit denen der holzbeinige Kapitän über die Deckplanken schwankte, nachzuahmen. Auf mich wirkten ihre Bewegungen überzeugend. Mir erschienen sie zumindest so realistisch, wie sich ein Apfelbaum dieses Szenario ausmalen konnte. Wohlgemerkt einem Apfelbaum, der sich mit Holz durchaus gut auskannte. Wobei ich natürlich zugeben musste, dass ich keine Ahnung von daraus gefertigten Gliedmaßen hatte. In meinem so geschmeidig in die Hand von Vladimirs Mutter geschmiegten Ast steckte noch ein Hauch von Leben. Zu plötzlich und grausam war ich seiner durch die unerbittlich schon seit Monaten auf mir lastenden Schneemassen beraubt worden. In diesem Augenblick war mir die das Stück Holz so fest umklammernden Frau unendlich nahe. Sie hielt einen Teil von mir mit solcher Leidenschaft eng umschlungen, dass mir das Atmen schwerfiel.

Salvenartig folgte aus dem Mund von Vladimirs Mutter ein nicht enden wollender Erguss an Schmähungen. Lautstark ereiferte sich der Kapitän. Sein purpurner Kopf glühte vor Erregung. Offensichtlich brachte die polternde Einlage auch die Darstellerin in Wallung. Ihr ebenfalls hitziger Körper, der in einer mittlerweile ebenfalls satten Gesichtsfarbe Ausdruck fand, verlangte nach Abkühlung. Sie riss sich förmlich ihren etwas zu groß geratenen Kalpak vom so in Unordnung geratenden Haupt. Auffallend behutsamer legte sie ihn dann auf meiner Wurzel ab. Mein Blick fiel auf ihr langes, ebenholzfarbenes Haar. Ich fühlte mich von ihren roten Wangen, die ihr inneres Feuer widerspiegelten, und dieser wallenden Mähne augenblicklich verzaubert. Die nur durch ihr sanftes Atmen bewegte Stille ließ mich in ihrem Anblick baden. Wenig später wurde meine lautlose Ehrfrucht allerdings von einer zuversichtlichen Stimme gebrochen: „Land in Sicht!“, schallte es von oben aus dem Mastkorb. Vladimirs Mutter sprang mit einem Satz auf meine Wurzel. Sie streckte sich, so weit sie nur konnte. Lauter und lauter rief sie: „Land in Sicht!“ Bei diesen ungestümen Bewegungen war ihre Kopfbedeckung aus schwarzem Pelz, die sie sonst so würdevoll und mit viel Umsicht behandelte, von ihrem Ablageort gefallen.

Der Kalpak kümmerte Vladimirs Mutter in diesem Augenblick nicht im Geringsten. Noch etwas außer Atem schmückte sie durch ihre weichen Bewegungen aus, wie die Mannschaft ihre Hälse reckte. Jeder wollte der Erste sein, der die frohe Botschaft leibhaftig ins Visier nahm. Eine dicke Wand aus Nebel verschleierte im Moment noch all Glaubhaftes an dieser Kunde. Doch dann: Ein Umriss schälte sich aus der trüben Nacht: Eine vage Kontur, die Hoffnung und Schutz bedeutete.

Vladimirs Mutter schloss für einen Moment das Buch und auch ihre mandelförmigen, dunklen Augen. Vorhin, als sie in der Rolle des Kapitäns in Rage geraten war, hatten sie schwarz gefunkelt. Nun aber war die Frau wieder die Sanfte. Noch einmal wiederholte sie ihre beiden letzten inhaltsträchtigen Worte: „Hoffnung und Schutz.“ Dann hielt sie einen Moment inne. Fast träumerisch fuhr sie fort: „Ja, genau, das fühle ich hier. Hier in der Geborgenheit unseres ganz besonderen Baumes. Seine starke Wurzel ist wie für Zwiegespräche und märchenhafte Ausflüge geschaffen. Immerzu lädt sie dich und mich ein, uns auf ihr niederzulassen, zu verweilen, ins Träumen zu geraten.“ Mit wachen, freudig-ernsten Augen blickte sie dabei ihren Sohn an, der breitbeinig auf meiner von seiner Mutter so gelobten Wurzel saß. Dabei war er an meinen Stamm gelehnt. Wie auf Kommando richtete er sich auf und umarmte mich innig. „Du riechst so gut, mein Apfelbaum, mein wunderschöner Apfelbaum“, flüsterte er. Um seine Äußerung zu unterstreichen, rieb er seine Nase kraftvoll an mir und hatte Angst, dass ihn meine raue Borke verletzte. Doch so zimperlich war der Junge nicht. Also duftete ich ihm entgegen, was das Zeug hielt. Ich hielt inne und schmunzelte. Wieder hatte ich eine Formulierung genutzt, die ganz neu für mich war und mir doch wie selbstverständlich in den Sinn kam.

Ein Schauer unendlicher Zuneigung zu dieser Familie durchflutete mich. „Besonderer Baum“ hatte die Frau mich genannt. Wie schmeichelhaft. Vladimirs nur geraunte Antwort auf die mir so wohltuenden Worte riss mich aus meinen Gedanken: „Und dabei befinden wir uns auf Sperrgebiet.“ Wie um seine Äußerung zu bekräftigen, verstärkte sich seine Umarmung. Ich genoss seine Berührung, den Duft und die Wärme, die der Junge eingepackt in seinen dicken Fellmantel dennoch zu verströmen vermochte. „Ja, so seltsam es ist, aber genau das löst eben auch dieses Gefühl von Sicherheit in mir aus“, entgegnete Vladimirs Mutter. „Hier sind die Hänge so steil und der Pflanzenwuchs so dicht, dass kein Mensch und kein militärisches Gerät je zu uns durchdringen werden. Das hier“, sagte sie mit ausladender Geste, während sie mit ihren schlichte Eleganz ausstrahlenden, fellgefütterten Winterstiefeln den Platz rund um meinen Stamm ablief. Dann setzte sie erneut an, den Satz zu vollenden: „Das hier beschützt uns vor der Welt da draußen und gleichzeitig ist unser Apfelbaum mein ganz persönliches Zeichen der Hoffnung! Hoffnung auf ein freies Leben!“ Sie deutete auf einen imaginären Gegner, den ich mir nur zu gut ausmalen konnte. Vladimir nickte zustimmend. Dabei hielt er mich immer noch umschlungen. Und ich? Ich ließ mir einfach weiter die behagliche Intimität gefallen.

Vladimirs Mutter trat an ihren Sohn heran. Sie zog ihre roten, dicken Fäustlinge aus und legte ihre Hand auf eine von seinen, die mich so fest an sich drückten. Ihre Handfläche war viel grösser. So berührte diese wundervolle Frau also nicht nur ihren Jungen, sondern auch mich. Ihre Nähe ließ meine Stammmitte fast platzen und meine Wurzeln pumpen. Wenn Apfelbäume ohnmächtig werden konnten, dann war ein solcher Bewusstseinsverlust jederzeit möglich. Welches unbeschreibliche Glücksgefühl wallte in mir auf. Welche wohlige Wärme packte mich. Lange verharrten wir drei in dieser innigen Haltung. Vereint in Stille und Gemeinschaft.

Als sich die Hand von Vladimirs Mutter von der ihres Sohnes löste – und somit auch von mir – empfand ich fast körperlichen Schmerz. Gedankenverloren rieb die mir gerade noch wohlige Schauer über den Stamm treibende Frau ihre Hände aneinander. Danach entfernte sie ein bisschen von der auf ihrer Hand zurückgebliebenen Borke. Fest rubbelte sie ihre wohlgeformten Fingerglieder ab. Dann nahm sie das Buch erneut zur Hand und den Faden wieder auf. Sofort war ich zurück im Geschehen auf der Professor Gül:

Die gesamte diensthabende Mannschaft hatte sich steuerbord versammelt. Jeder Seemann fixierte denselben Punkt im dichten Treiben von Nebel und Gischt. Tatsächlich: Da tauchte eine Insel aus den hohen Wellen hervor. Zugegeben war es eher ein Riff. Dennoch war die Erhebung groß genug, um dort vor Anker zu gehen. Die Freude darüber, dass ihr tiefer Wunsch, sich gleich auf festen, nicht zum Sinken verurteilten Boden zur Ruhe zu betten, stand allen in die müden Gesichter geschrieben. Das lebensrettende Unterfangen, den schwankenden, wellengebeutelten Kahn anzulanden, verlangte von der gesamten Crew jedoch starke Nerven. Der Steuermann brauchte mit Unterstützung des Maats insgesamt drei Versuche, bis die Professor Gül an einem zwar wenig windgeschützten Ort, dennoch sicher vertäut war.

Insgesamt vierzehn Matrosen taumelten von Bord. Einvernehmliches Schnarchen war bald allerorts zu hören. Einzig der Kapitän kam nicht zur Ruhe. Seine selbst auferlegte Aufgabe hielt ihn wach. Er wollte über seine tapferen Männer wachen, sie in ihrem wohlverdienten Schlaf beschützen. Am Morgen sollten schließlich alle für das Ausbessern des Rumpfes ausgeruht sein. Der Stumpf am Holzbein des Schiffsführers schmerzte. Er plagte ihn noch mehr als auf hoher See. Fester Boden unter den Füssen vermochte die Pein meist zu lindern. Aus unerfindlichen Gründen war dies in jener Nacht anders.

Der Morgen graute noch nicht, als sich die Ersten der Mannschaft regten und ausgiebig streckten. Nacheinander machten sich die Matrosen auf Erkundungstour auf der Insel, um ihre Notdurft zu verrichten. Weit kam keiner von ihnen. Die Insel war klein. Sehr klein. Schon bald war aus dem Bauch der Professor Gül ein Hämmern und Klopfen zu hören. Auch diese bildgewaltigen Worte untermalte Vladimirs Mutter wieder klang- und gestenreich. Sie bediente sich dabei allem, was sie umgab. Sie schlug verschiedene meiner herumliegenden, schneebrüchigen Äste aufeinander und klopfte damit vorsichtig, dennoch bestimmt an meinen Stamm oder meine Wurzel. Sie schleifte ihre dick gefütterten brauen Fellstiefel über die blanke Erde, um ein Abschmirgeln zu simulieren. Zum Nachahmen einer Säge zog sie einen noch lebendigen Teil von mir, einen besonders mickrig geratenen Zweig, zu sich heran. Schnell und ausdauernd rieb sie ihn an ihrem roten, groben Rock aus Breitcord. Die perfekte Illusion einer Schreinerei entstand so in meinen Gedanken. Auch Vladimir war wieder voll bei der Sache. Vorhin, als die Matrosen vom Schlaf übermannt wurden, hatte ihn die nächtliche Stimmung auf dem Riff in kurzen Schlummer versinken lassen.

Der handwerklich geschickte Maat hatte sich also zu früher Stunde darangemacht, den sinkgefährlichen Schaden zu beheben, bevor ihm jemand zuvorkam. Übernacht war alles Unwetter verschwunden. Die Sonne strahlte über ein ruhiges, sanft wogendes Meer. Doch der ein oder andere Matrose hatte weiterhin das Gefühl, Bewegung unter den Füssen zu spüren. Ganz so als befänden sie sich immer noch auf schwerer See. Vier Besatzungsmitglieder sowie der Kapitän waren mittlerweile wieder auf das erneut seetaugliche Schiff zurückgekehrt.

Wie aus dem Nichts traf eine Erschütterung die Insel. Jeder einzelne Leib, der sich noch an Land befand, erzitterte. Auch Vladimirs Mutter schüttelte ihren massigen Körper. Dann ging alles ganz schnell. Dem kräftigen Beben folgte ein jähes Absacken der Insel. Die gerade noch auf festem Boden stehende Crew wurde wild durcheinandergerüttelt. Gekonnt setzte die Erzählerin dies mit ihren schauspielerischen Fähigkeiten in Szene. Wie die Matrosen, die hin und her torkelten, schlingerte auch Vladimirs Mutter von einer Seite zur anderen. Ihr Taumeln ging in Schwimmbewegungen und ein Schnappen nach Luft über. Denn plötzlich war überall Wasser. Geistesgegenwärtig durchtrennte der sich an Bord befindende Kapitän mit einem beherzten Säbelhieb das Tau, das die Professor Gül an die Insel band. Wieder einen sehr dünnen Zweig in den Händen haltend und damit eine schnelle Bewegung vollführend, durchschnitt Vladimirs Mutter die Luft. Dabei entstand ein einem Peitschenhieb täuschend ähnliches Geräusch. In genau diesem Augenblick tat es Vladimir mir gleich. Er hielt den Atem an. Die Darbietung seiner Mutter ließ die Atmosphäre knistern. In dieser spannungsgeladenen Stimmung warteten der Junge und ich, mit ehrfürchtigen Blicken was passieren würde.

„Mann über Bord!“, schrie die Frau im nächsten Moment aufgeregt. Dabei formte sie mit ihren Händen einen Trichter um ihren Mund. Sie machte ein paar kleine, zögerliche Schritte. Einige Male rief sie dieselben Worte in verschiedene Richtungen. Dann erstarb ihre Stimme mitten im Satz abrupt. Ihre schwarz gewordenen Augen funkelten. In Angst und Ungläubigkeit weiteten sie sich. Grenzenlose Frucht schien Vladimirs Mutter gepackt zu haben. Ihr ganzer Körper zitterte.

Langsam und mit verstörtem Gesichtsausdruck hob die Frau ihren Arm und deutete mit dem ausgestreckten Zeigefinger auf einen unsichtbaren Feind. Sich die langen, krausen Haare raufend, verharrte sie fassungslos in ein und derselben von Abscheu erfüllten Position. Speichel tropfte ihr über die Lippen. Ein fast irrer Blick zeichnete ihr eiskaltes Grauen ins Gesicht. Ihre maßlose Bestürzung übertrug sich in Sekundenschnelle auf mich. Auch ich schlotterte nun vor Entsetzen. Vladimir starrte seine Mumi gebannt an. Er zog seinen Mantel enger um sich. Gleichzeitig versuchte er, mich noch näher an sich zu pressen. Nur zu bereitwillig gab ich nach. Natürlich wollte ich diesem bangen Jungen Schutz an meinem kräftigen Stamm bieten, obwohl ich selbst um Fassung rang. Um meine Gestalt noch gewaltiger wirken zu lassen und mich selbst zu stärken, blähte ich mein ganzes Sein auf. Vladimir schien meine Anstrengungen zu bemerken. Er entspannte sich sichtlich.

Seine Mutter richtete unsere Aufmerksamkeit wieder auf das Wasser: Völlig unerwartet, wurden die teilweise ohnmächtig im Meer treibenden, teilweise heftig zappelnden Matrosen mit einem Mal in die Höhe gerissen. Wild schlugen sie um sich. Einige Crewmitglieder waren in Sicherheit. Unwissend was geschehen würde, hatte es sie bei Tagesanbruch auf die Professor Gül getrieben. Am Bug des Schiffs versammelt, beobachteten sie gebannt, was auf dem offenen Meer passierte. Ihre Kameraden hatten es beileibe weniger gut getroffen als sie. Jeder, den das Absinken der Insel in die eiskalte See geschleudert hatte, fand sich an einem anderen Ende gigantischer Gliedmaßen. Sie waren mit Saugnäpfen übersät. „Tentakeln“ nannte sie Vladimirs Mutter mit schauerlichem Unterton. Die Beine der Männer, jeglichem freien Willen beraubt, traten widerstandslos in die morgenfrische Luft. All ihr Strampeln blieb ohne jede Wirkung. Diejenigen, die von Deck aus zusahen, gerieten in hemmungslose Panik. Der Anblick des Untiers, zu dem die acht Fangarme gehörten, erschütterte die sich an Bord der Professor Gül ebenso wenig sicher fühlenden Männer bis ins Mark. Mit Bestürzung erkannten sie, was ihnen noch bis vor wenigen Minuten Schutz geboten und nun ihre Kameraden erbeutet hatte: Es handelte sich um einen Riesenkraken – aus einer vermeintlichen Insel geboren.

Vladimir hielt sich längst schon Augen und Ohren zu. Er war noch bleicher als sonst. Sein magerer Körper zitterte überall. Blitzartig war seine Mutter bei ihm. Sie tröstete den verängstigten Jungen mit ihrer Nähe, wollte ihm seine Besorgnis nehmen. Besänftigend strich sie ihm über seine glatten, blonden, fast weißen, Haare. „Soll ich machen, dass die Geschichte gut ausgeht“, fragte sie ihren Sohn mit einfühlsamem Unterton. Er riss seine zugekniffenen Augen weit auf. Dann plusterte er sich auf. Ich spürte seine Entrüstung förmlich. Störrisch löste der Junge sich aus der Umarmung seiner Mumi. Dann donnerte er ihr ein vehementes „Nein“ entgegen. “Ich bin doch kein Baby. Ich kann die Wahrheit ertragen!“, schlug der Verdutzten keine Sekunde später ins Gesicht.

Aber was war mit mir? Mich hatte niemand gefragt. Mir war die Wahrheit schnurzpiepegal. Diesen Begriff hatte ich von Vladimir gelernt. Ich wollte das angebotene schöne Ende. Warum musste Vladimir nur so schrecklich tapfer sein? Am liebsten würde ich weglaufen, kam mir völlig irrational in den Sinn. Bei diesem absurden Gedanken musste ich innerlich laut auflachen. Die daraus resultierende leichte Entspannung gab mir zum Glück ein bisschen meiner verlorenen Fassung zurück. Wenn der Junge schon so viel Mut zeigte, konnte ich schließlich als vierzig Mal älterer kein Feigling sein. Außerdem war mir ohnehin klar, dass mein Veto ungehört geblieben wäre.

Vladimirs Mutter begann, mit schnellen, von winterlicher Kälte leicht bläulich verfärbten Fingern im Buch zu blättern. Dann zeigte sie auf eine Zeichnung, die sie offenbar gesucht hatte. Vladimir hatte sich mittlerweile etwas beruhigt. Allerdings blieb er mir so nah, wie er nur konnte. Er fixierte die aufgeschlagene Buchseite, zog seine blauen Strickhandschuhe aus und strich mit den Fingerspitzen seiner rechten Hand über die Umrisse des dargestellten Motivs. Sein zarter Körper und seine linke Hand verharrte dabei weiterhin in der Umarmung mit mir. Feinsäuberlich zog er die feinen Linien jeder einzelnen Tentakel nach. Alle acht Fangarme bedachte er dabei mit derselben Aufmerksamkeit. Durch diese Art meditativer Übung verlangsamte sich seine Atmung erkennbar. Er wirkte weniger aufgewühlt. Sein Thorax hob sich längst nicht mehr so hektisch wie noch vor wenigen Augenblicken.

Plötzlich beschleunigte sich der Vladimirs Herzschlag erneut. Die Veränderung blieb von seiner Mutter zwar unbemerkt, aber für mich war sie deutlich wahrnehmbar. Schließlich drückte er sich immer noch an meinen Stamm. Ich spürte das heftige Pochen des kräftigen Organs hinter seinem Brustbein. Die zugehörige Vibration schien sich bis in meine letzten Zweige auszudehnen. Ich war völlig eingenommen von unserem innigen, wie selbstverständlich wirkenden Bündnis. Mein Puls verschmolz mit dem des Jungen.

Als seine Fingerspitzen den gezeichneten Schädel der monströsen Kreatur berührten, setzte das Herz des Jungen für einen Moment aus. Ich erschrak zutiefst. Dann pumpte der erstaunliche Muskel lebendig und regelmäßig weiter. Leicht erschöpft, versuchte ich mich ebenfalls zu entspannen. Diese emotionale Berg- und Talfahrt forderte mich. Es war ein echter Höllenritt. Auch dieses Wort hatte sich erst jüngst in meinen Sprachschatz verirrt. Mutig fuhr Vladimir den Umriss des unförmigen, sackartigen Gebildes nach, das direkt an die Tentakeln des furchteinflößenden Wesens anschloss. „Kopffüßer“, erklärte Vladimirs Mutter mit sanfter, beruhigender Stimme. Damit schien sie die Frage vorwegzunehmen, die der Junge in seiner unstillbaren Neugier sicherlich bald gestellt hätte.

Zwei riesige bernsteinfarbene Augen starrten uns aus dem auf den alten Buchseiten abgebildeten wulstigen Gesicht an. Doch der Blick des vermeintlichen Ungeheuers war gar nicht so todbringend, wie wir beide uns dies wohl nach der gerade erlebten plastischen Inszenierung ausgemalt hatten. Ein wacher Verstand versteckte sich offenbar hinter den klobigen Zügen des Kopffüßers. Vladimir sah seine Mutter an. Seine Augen drückten genau das aus. Sie nickte und fügte bestätigend hinzu: „Kraken sind äußerst feinfühlige Wesen und blitzgescheit dazu. So unglaublich es klingt: Sie haben drei Herzen und ein Gehirn, das nicht nur in ihrem wie aufgebläht wirkenden Schädel steckt. Wo das Gehirn eines Oktopusses – so nennt man sie auch – anfängt oder endet, stellt die Wissenschaft vor Rätsel. Klar ist aber, dass sich ihre Hirnmasse bis in alle acht Fangarme – manche haben sogar zehn – verästelt. Das heißt ihr ganzer Körper ist gleichzeitig pure Intelligenz. Tatsächlich sind sie uns Menschen gar nicht so unähnlich.“

Vladimir schüttelte irritiert den Kopf. Auch ich verstand nicht, was die belesene, ebenfalls blitzgescheite Frau ausdrücken wollte. „Es ist erwiesen, dass Kraken ein Kurz- und Langzeitgedächtnis haben. Außerdem schlafen sie.“ Vladimir unterbrach seine Mutter: „Ja, sonst hätten die Matrosen auf der vermeintlichen Insel gar nicht übernachten können?“ Hocherfreut bestätigte die Frau mit einem Nicken diese wohlüberlegte Schlussfolgerung. Sie entgegnete: „Ja genau. Sie erkunden ihre Umwelt spielerisch und sind sogar fähig, andere Lebewesen zu erkennen.“ Ungläubig fragte Vladimir dazwischen: „Was genau heißt denn erkennen?“ Zur Antwort bekam er von seiner Mutter: „Es ist erwiesen, dass Kopffüßer zum Beispiel Menschen voneinander unterscheiden können. Die einen mögen sie offenbar und die anderen nicht.“ Vladimir schaute noch kritischer drein. Auch ich traute dem tentakeligen, wabbeligen Vieh eine solche Differenzierung nicht im Entferntesten zu. „Soll ich weitererzählen? Vielleicht verstehst du dann, was ich meine.“ Vladimir nickte. Er zog seine Handschuhe wieder an und machte es sich gemütlich. Er war immer noch eng mit meinem Stamm verbunden. Die Nähe schien uns gegenseitig zu beschützen und zu ermutigen. Wir saßen quasi im selben Boot und würden die Reise weiterhin gemeinsam bestreiten, egal in welche prekäre Situation uns die Frau lotsen würde.

Jeder Fangarm hatte einen Matrosen zu fassen bekommen. An einem hingen sogar zwei – wie Insekten an einer Blüte. Nur unfreiwillig. Statt mit schlagenden Flügeln dem Zentrum der Blume näher zu kommen, wollten die gewaltsam umklammerten Männer nur eines: Weg. Auch wenn das für sie nur bedeuten würde, zurück ins eiskalte Meer zu plumpsen. Der Kraken führte einen seiner Fangarme mit dem darin zappelnden Dmitri dicht vor sein Gesicht. Je näher der Unglückliche dem Maul des Ungetüms kam, desto weniger strampelte er.

Dimitri musste kurz davor sein, ohnmächtig vor Angst zu werden. Was ging nur in seinem jungen Kopf vor? Zog sein kurzes Leben an ihm wie ein Blitzgewitter vorbei? Dachte er als einziger Sohn an seine tuberkulosekranke Mutter? Er hatte sie rührend umsorgt, bis die Mittel der Familie erschöpft waren. Am Krankenbett, als die im Fieberwahn schweißgebadete Frau ihren Jungen inständig anflehte, nicht zu gehen, hatte er etwas versprochen. Er würde von seiner ersten Fahrt zur See unbeschadet heimkehren. Sollte er seinen heiligen Schwur nun so brechen? Auf eine so schreckliche, unwürdige Art sterben? Und was noch schlimmer für ihn war: Seine Mutter würde zwar erfahren, was ihm widerfahren war, doch würde nichts von ihm bleiben, das sie begraben könnte.

Der Teil der Besetzung, der auf der Professor Gül in vermeintlicher Sicherheit war, lehnte regungslos über der Reling. Mit Grauen und geweiteten Pupillen beobachteten viele Augenpaare das schreckliche Schauspiel. Auch uns Zuhörern wurde angst und bange. Ganz flau war Vladimir und mir zumute. Tiefes Mitgefühl und grenzenlose Furcht breitete sich in uns aus. Dumpf ahnten wir, was gleich geschehen würde. Mit unserer viel zu ausgeprägten Vorstellungskraft wünschten wir beide uns heimlich, das Grauen nicht weiter miterleben zu müssen. Wir wollten aussteigen aus unserem gemeinsamen Boot und doch war unsere Neugier stärker. Nicht wirklich ernsthaft wünschten wir uns also, dass die Mutter des Jungen zu erzählen aufhörte.

Von allen Seiten begutachteten die riesigen, kreisrunden Glubschaugen des Kraken den in so misslicher Lage baumelnden Matrosen Dann passierte etwas, womit wohl keiner der Anwesenden gerechnet hatte – am wenigsten der Totgeweihte selbst: Der Oktopus setzte seine offenbar nicht als verzehrwürdig bewertete Beute einfach an Deck der Professor Gül ab. Direkt neben dem verstörten Maat ließ der Kraken den ungläubig dreinblickenden Dmitri aus seinen glitschigen Griffeln. Bevor er sich zurückzog, tippte er dem Verschonten wie zum Abschied noch einmal leicht auf die Schulter. Ein Raunen ging durch die Reihen. Auch dem Jungen und mir entwich ein erleichtertes Aufatmen.

Doch die Verschnaufpause währte nur kurz. In den Fängen des Achtfüßlers verblieben schließlich noch ebenso viele Gefangene. Mit der frei gewordenen Tentakel zupfte der Kraken einen Matrosen von dem Fangarm ab, an dem gerade noch zwei Männer um ihr Leben gestrampelt hatten: Es waren die beiden Brüder Alimir und Arman, die schon ihr halbes Leben gemeinsam zur See fuhren und bei der Mannschaft als unzertrennlich galten. „Siamesische Zwillinge“ wurden die beiden scherzhaft genannt. Der griesgrämige Kapitän, unter dessen strengem Kommando sie schon unzählige Jahre Dienst leisteten, hatte die so innig miteinander verbundenen Geschwister besonders ins Herz geschlossen, sie quasi adoptiert. Denn Alimir und Arman hatten nur einander.

Ihre gesamte als Nomaden in der sibirischen Steppe lebende Sippe war eines Nachts erschlagen worden. Damals waren die beiden Jungen noch sehr klein gewesen. Als der niederträchtige, rein von Mordlust getriebene Überfall geschah, hatte das Schicksal ihnen das Leben gerettet. Während alles menschliche Leben um sie herum ausgelöscht worden war, hatten sie friedlich zum Vieh gebettet geschlafen. Um alle Blutsverwandten beraubt, war ihnen das Waisenhaus nicht erspart geblieben. Dort lauschten sie am liebsten Schwester Evgenia, wenn sie ihren Schützlingen heimlich Abenteuer über Seefahrer und in Untiefen hausende Monster erzählte. Als sie alt genug war, um zur See zu fahren, war es nur natürlich, dass die Brüder Matrosen wurden. Vor vielen Jahren hatten sie auf der Professor Gül angeheuert. Bis heute waren sie ihr treu geblieben. Dass sie aber tatsächlich einmal unliebsame Bekanntschaft mit einem Seeungeheuer machen würden, das war nie ihr Verlangen gewesen.

Zuerst wollten die Geschwister einander nicht loslassen. Ihr Geiselnehmer hatte jedoch kein Erbarmen und trennte die beiden. Dann schrien sie sich gegenseitig lautstark Durchhalteparolen zu. Schnell erstarb aber ihre Gegenwehr. Nun allein im Würgegriff zweier unterschiedlichen Tentakeln gefangen, ergaben sich die Männer bald im stummen Dialog ihrem Schicksal. Die zwei Unzertrennlichen wirkten auf das Schlimmste gefasst. Von der Angst um den geliebten Bruder getrieben, griffen beide immerfort in die leere Luft. Sie versuchten verzweifelt, einander zu erreichen. Für den Augenblick ohne Erfolg. Der Kraken beobachtete die ergreifende Szene genau. Ständig blickte er zwischen Alimir und Arman hin und her. Schließlich vereinte er die beiden wieder an einem Fangarm. Wie schon zuvor Dmitri setzte er auch die Brüder wohlbehalten an Deck ab.

Ähnlich erging es Yuri, dem nach dem Kapitän ranghöchsten Offizier. Später gestand er seine rätselhafte Wahrnehmung. Ihm war gewesen, als hätte der Kraken mitten in sein Herz geschaut, sein Gewissen befragt, bevor er ihn fast zärtlich wieder auf seine zwei schlotternden Beine gestellt hatte. Den alten, glasäugigen Yuri kannten alle nur als „Held von Baku“. Als vor vielen Jahren eines Nachts am Hafen ein Brand ausgebrochen war, hatte der Mann nicht weniger als fünf Kinder vor dem sicheren Feuertod gerettet. Beim Versuch zusammen mit dem Familienoberhaupt die jüngste Tochter aus den Flammen zu befreien, war ein Dachbalken herabgestürzt. Schlagartig hatte er die beiden Männer voneinander getrennt. Die vierjährige Aisha gelangte in die Arme der einäugigen Blaujacke, wie Yuri nicht ohne Grund genannt wurde. Noch an Ort und Stelle nahm der unnachgiebige Vater dem Mann, der die Kleine in Sicherheit bringen würde, ein Versprechen ab. Yuri würde sich um seine Frau und Kinder kümmern, sollte er selbst im Feuer bleiben. Beim Grabe seiner Mutter leistete Yuri den Schwur. Jedoch nicht nur deshalb hielt er sein ungeheuerliches, folgenschweres Gelöbnis.

Fjodor war der zehnte im Bunde, der wieder die Deckplanken der Professor Gül unter den Füssen spüren durfte. Unter den Männern galt er als besonders ausgeglichen. Nie hatte er für jemanden ein böses Wort übrig. In düsteren Stunden, in denen sich alle seemüde fühlten und dadurch missmutig wurden, holte er seine Dombra hervor. Nicht selten verstand der feinsinnige Mann es, dem eigentlich übellaunigen Instrument im richtigen Moment frohe Klänge zu entlocken. Immer dann wenn die Stimmung zu kippen drohte, spürte Fjodor genau, was er und seine Laute bewirken konnten. Oft schon hatte er für seine Kameraden aufmunternde Lieder gesungen, wenn alle der Mut verlassen hatte. Schnell wurde den Matrosen wieder warm ums Herz. Kampfgeist und Überlebenswille kehrten zurück. In so manchen zermürbenden Situationen hatte Fjodor der Mannschaft schon die nötige Portion Kraft, Durchhaltevermögen und Zuversicht beschert.

Großer Jubel entfachte an Bord der Professor Gül. Der sonst mürrische Kapitän wirkte fast fröhlich. Selbst der eigentlich wortkarge und dennoch lebensfrohe Maat geizte nicht mit seiner Anteilnahme. Die geretteten Männer lagen sich in den Armen. Sie weinten Freudentränen und solche der Erleichterung. Alle Augenpaare waren auf die verschiedenen glücklichen Szenen gerichtet. An Bord ergab sich die Crew blinder Wiedersehensfreude, bis ein jähes, durchdringendes Geräusch die Blicke aller Beteiligten zurück zum Geschehen auf hoher See zwang.

Vladimirs Mutter hatte – unbemerkt von uns Zuhörern – einen dicken, trockenen Ast mit einem energischen Fußtritt in zwei geteilt. Von den gerade noch vier durch Fangarme fixierten Matrosen baumelten nur noch drei in luftiger Höhe. Von Ivan fehlte jede Spur. Was aus ihm geworden war, ließ sich schnell erahnen. Das durchdringende Geräusch wiederholte sich. Vladimirs Mutter hatte erneut einen Ast mit roher Gewalt gespalten. Etwas zerbarst und splitterte gleichzeitig. Auf welche Art Vladimirs Mutter dieses markerschütternde, viel zu realistische Zermalmen zustande gebracht hatte, war mir – auch später als ich mich an diese groteske Situation zurückerinnerte – für immer rätselhaft.

Meine ganze Konzentration war auf ihren Sohn gerichtet. Vladimirs Kopf schien nur noch aus seinen ozeanblauen Augen und einem weit geöffneten Mund zu bestehen. Seiner Kehle entwand sich ein gequälter, schmerzerfüllter Schrei. Auf seiner Stirn zeigten sich Schweißperlen. Ohne Vorankündigung warf sich der Junge auf den nackten, kalten Boden. Panikartig umklammerte er seinen von wilden Zuckungen gepeinigten Körper. Er röchelte mitleiderregend und stieß mit seinen Beinen um sich. Egal, was seine Mutter versuchte, sie bekam ihren Sohn nicht zu fassen. Vladimirs Stimme überschlug sich. Aus Schreien wurde ein Heulen, dann ein Wimmern.

Tatenlos musste ich alles mit ansehen. Für mich gab es keine Möglichkeit einzugreifen. Ich konnte in diesem Moment nichts für den Jungen tun. Das machte mich unendlich traurig. Mir war elend zumute. Eine Flut von Tränen purzelte an Vladimirs Wangen hinunter. Die salzigen Tropfen verwandelten sich binnen Sekunden in wahre Sturzbäche. Sein ganzer zarter Leib bebte. Unkontrolliertes Weinen nahm all seine momentane Wirklichkeit ein. Immerzu keuchte er: „Nein, nein, nein!“ Seine verzweifelten Worte hämmerten in mir wie ohrenbetäubende Schläge auf einen metallenen Amboss. Ich fühlte mich erbärmlich. Hilflos. Taten wurzeln in Gedanken, pulsierte es in mir. Warum konnte ich mich nur nicht zu ihm hinunterbeugen? Es versuchen, diesen bewundernswerten Jungen, dessen Emotionen ihn gerade hinfort zu spülen drohten, zu beruhigen? Ich wollte ihn beschützen, ihm seinen unüberhörbaren Schmerz nehmen. Doch

Um mich selbst zu beruhigen und der in mir tobenden Empörung für die mir auferlegte Tatenlosigkeit zu entfliehen, begann ich mich hin und her zu wiegen. Viele Male hatte mir das gleichförmige Schwingen wieder Frieden geschenkt. Insbesondere dann, wenn ich mich ausgeliefert und unbeweglich fühlte. Sanfte Töne lösten sich aus meinem Geäst und zwangen meinen innerlichen Kampf in die Knie.

Gedämpftes Stöhnen und von Atemaussetzern ersticktes Schluchzen waren die einzigen Laute, die Vladimir gerade von sich gab. Nach peinigenden Minuten dieses für mich nur als Anfall deutbaren Schüttelkrampfes schien er sich etwas zu entspannen. Seine Mutter konnte sich ihm endlich gefahrlos nähern. Die ganze Zeit hatte sie mehr als einmal hilfesuchend ihre Hände in den Himmel gestreckt und um Vladimir bangend auf der blanken kalten Erde gekauert. Entschlossen robbte sie nun zu ihm. Obwohl sie innerlich sicherlich ein Nervenbündel war, ließ sie sich nichts anmerken und zog ihren völlig erschöpften Jungen zu sich heran. Dankbar wiegte sie ihn in ihren Armen. Dabei summte sie leise in sein Ohr.

Ich beobachtete die Szene voller Rührung. Besänftigend schaukelte ich weiterhin in einem moderaten Tempo hin und her. Meine kahlen, leblosen Zweige touchierten sich dabei so sachte, dass meine Bewegungen sonore, harmonische Töne erzeugten. Sie traten in Dialog mit dem Singsang von Vladimirs Mutter und untermalten ihn liebevoll. Dieser Zweiklang hatte auf den Jungen offenbar eine sehr beruhigende, tröstende Wirkung. Seine Atmung normalisierte sich zusehends. Sein Wimmern ebbte mehr und mehr ab. In die einfache Melodie, die sich vom unnatürlich verfärbten Mund der vorhin zu Untätigkeit verdammten Mutter löste, mischte sich eine mir bekannte Wortfolge. Die Frau hatte sich in Sorge um ihren weggetretenen Sohn die Lippen blutig gebissen. Immer noch schien sie erschüttert von der Gewalt ihrer eigenen Erzählkunst. Kaum hörbar stimmte sie ein Lied an. Das Stück erklang nicht zum ersten Mal in meiner Gegenwart. Augenblicklich erfüllten mich die Laute mit Freude.

Ich geriet in eine Art Hochgefühl, als die Stimme der von mir so verehrten Frau fester und gleichzeitig feuriger wurde. Meine Angst um den Jungen nahm ab. Ich wusste, wenn irgendetwas es schaffte, zu Vladimir durchzudringen, dann war es diese Melodie. Der Junge liebte diese Komposition. Schon oft hatte er in meinem Beisein seine Mutter gebeten, die mongolische Volksweise für ihn zu singen. Auch heute verfehlte ihr lieblicher Gesang seine Wirkung nicht. Sich die letzten Tränen aus dem Gesicht wischend, richtete sich Vladimir in den Armen seiner Mutter etwas auf. Dann schmiegte er sich bereitwillig an ihre tröstlich weiche Brust.

In Vladimirs so heißgeliebtem Lied ging es um mich. Na, vielleicht nicht direkt um mich. Aber um einen Apfelbaum. Um einen Apfelbaum in Zentralasien. Nicht hier unterhalb der ewigen Schneegrenze des schier unüberwindlichen Tien Shan Gebirges. Es handelte sich um eine Holzapfelart. Sie wuchs in der Region, in der die Familie von Vladimirs Mutter ihr Ger aufschlug – und zwar im Herbst, um die reifen Früchte zu ernten. Die alte mongolische Dichtkunst erzählte von einem allmächtigen Lebensbaum. Es hieß, er spende Trost, biete Sicherheit und könne sogar Träume entfachen. Besonders der Refrain pries auf wunderbare Weise ein echtes, fühlendes Wesen. Ein so wahrhaftiges und lebendiges Wesen, wie ich eines war.

Vladimirs Mutter wiederholte zum Abschluss die letzte Strophe. Sie besang süß-bittere Freuden, die die Früchte dieses Holzapfelbaumes zu schenken vermochten. Während sie sang, leckte sie sich genussvoll die längst nicht mehr blutigen Lippen. Die Sinnlichkeit, die ihr Gesichtsausdruck innehatte, machte mich fast rasend. Die Frau erweckte in mir allen Ernstes den Eindruck, sie nasche von gar leckerem Gelee. Ich spürte fast, wie sich der einzigartige Geschmack des pflaumenähnlichen Obsts in ihrem Mund ausdehnte und wie dieser sie zur Verzückung brachte. In mir erwachte grenzenloser Appetit.

Vladimir war noch zu jung für derlei Erregungszustände und merkte von alldem nichts. Langsam stand er auf. Als sich der Junge dabei aus der Umarmung seiner gedankenverloren dreinblickenden Mutter entwand, wurde die Genießerin jäh aus ihren Kindheitserinnerungen gerissen. Mit einer beschwichtigenden Geste teilte ihr Sohn ihr wacker mit, dass er wieder in Ordnung war. Seine Mutter ließ ihn gewähren. Einen kurzen Moment verharrte sie jedoch. Es schien, als wolle sie seine Hand, die sich ihrem festen Griff zu entziehen suchte, nicht loslassen. Dann berührten sich nur noch die Fingerspitzen der beiden. Noch einmal streckte sich die Frau, um mit Vladimir auf Tuchfühlung zu bleiben. Dann gab sie ihr zerbrechlich wirkendes und doch so charakterstarkes Kind frei, das in vielerlei Hinsicht längst keines mehr war.

Den Jungen zog es zu mir. Zu seinem Apfelbaum, der ihn tröstete, ihn beschützte, mit ihm träumte. So schwach er noch vor wenigen Momenten wirkte, so kräftig schlang er seine dünnen Arme um mich. Obwohl es bestimmt fast fünf Vladimirs gebraucht hätte, um meinen dicken, alten Stamm zu umfassen, breitete sich seine liebevolle Umarmung ganz um mich herum aus. Seine freundschaftliche Berührung durchdrang mich in all meinem Sein.

So standen wir beide eine ganze Weile, bis eine zaghafte Stimme uns aus unserem stummen Dialog riss: „Verzeihst du mir?“, fragte Vladimirs Mutter mit einem unsicheren, fast bangen Unterton. Der Junge reagierte nicht. Er genoss mit geschlossenen Augen seine Verbindung mit mir. „Verzeihst du mir?“, kam es eindringlicher ein zweites Mal von der immer noch am Boden sitzenden Frau. Nun hörte Vladimir sie, öffnete die Augen und tauchte langsam zurück in die Realität. „Verzeihst du mir?“, war seine schlichte Antwort. Beide schwiegen einen Moment. Auf der Stirn von Vladimirs Mutter zeigten sich Furchen. Sie verstand die seltsame Gegenfrage ihres Sohnes offenbar nicht ganz. Erklärend fügte der Junge also hinzu: „Dass ich doch nicht so erwachsen bin, wie ich geglaubt habe.“ Nach einer kurzen Pause zuckte er mit den Schultern. Dann sagte er mehr zu sich selbst: „Vielleicht bin ich doch noch ein Baby.“

„Nein“, kam es kraftvoll von der sich erhebenden Frau. Sie unterstrich ihre Überzeugung mit einem Kopfschütteln. Gleichzeitig breitete sie die weiten Ärmel ihres Mantels einladend aus. „Du bist der tapferste Neunjährige, den eine Mumi sich wünschen kann.“ Die gerade noch mich fest umschlingenden Arme des Jungen flogen im nächsten Augenblick um die Hüfte seiner Mutter. Nun weinten die beiden gemeinsam. Herzzerreißend. Still und ergriffen konnte ich nur danebenstehen. Und doch war ich mittendrin. Tief bewegt durchlitt ich alle Emotionen, die auch die beiden liebgewonnenen Menschen gerade miteinander teilten.

„Du bist mir so ähnlich, Wolodja!“, rief sie freudiger, als die Situation Anlass gab. Sie wartete einen Moment, war offenbar nicht sicher, ob sie mehr sagen sollte, entschied sich dann aber dafür: „Als mir damals in der mongolischen Steppe deine Emee Geschichten erzählte, habe ich genau so reagiert. Ich habe mich einfach mit Haut und Haar hineinziehen lassen in die Welten, die sie vor meinen Augen erschuf. Sie konnte fremde Mächte so lebhaft heraufbeschwören, dass ich mich oft maßlos erschreckte. Ich muss etwa in deinem Alter gewesen sein, als es mir genauso erging wie dir heute. Deine Emee war eine Meisterin darin, gruselige Begebenheiten zu schildern. Schaurig-schön ließ sie dabei kein noch so kleines Detail aus. Sie untermalte ihre Erzählung mit allem, was sich in und um unser Ger herum fand. Manchmal war mir das Ganze zu realistisch.“

Vladimirs Mutter machte eine kurze Sprechpause und fuhr sich durch ihr etwas zerzaustes Haar. Erst jetzt bemerkte sie, dass sie ihren Kalpak gar nicht mehr trug. Er lag schon seit längerem auf dem nackten, schmutzigen Boden. Sie hob die Kopfbedeckung langsam auf, klopfte sie ab und betrachtete sie. Dann zuckte sie mehrmals mit den Schultern. Nachdenklich sagte sie: „Verzeih, diese besondere Gabe des Erzählens habe ich wohl von ihr geerbt. Ich wollte dich nicht so zu Tode erschrecken“, gestand sie schuldbewusst und fügte erklärend hinzu: „Diese Kopfbedeckung stammt von ihr. Deine Emee hat sie von ihrem kasachischstämmigen Agha, dem der Foliant einst gehörte, geerbt. Eigentlich tragen nur Männer Kalpaks, aber ihr war das egal und mir auch!“, verriet sie stolz und machte wieder eine Sprechpause.

Der Tochter von Vladimirs Großmutter wurde wohl zum ersten Mal ernsthaft bewusst, wie glühend sie Geschichten vortragen konnte. Verwirrt fuhr sie fort: „Wie dich vorhin hat mich auch dieses mich der Realität entreißende Zittern überfallen. Ich fand mich irgendwann ebenso auf dem Boden wie du dich vor wenigen Minuten. Wild schlug ich damals um mich. Niemand konnte zu mir durchdringen. Erst als deine Emee zu summen und dann zu singen begann, kam ich wieder zur Besinnung. Offenbar habe ich das vorhin bei dir auch intuitiv gemacht. Zum Glück hat es dich, wie vor so vielen Jahren mich, auch beruhigt.“

Dankbar sah die Frau nun mich an. „Aber ohne deine Unterstützung – dein melodiöses Säuseln und Rascheln – wäre es mir nicht gelungen, Vladimir zurückzuholen. Danke, lieber Apfelbaum“, hauchte sie geräuschvoll in meine Richtung. Konnte sie wirklich mich meinen? Ich hatte doch gar nichts getan. Dennoch war ich glücklich. Ich fühlte mich von ihren Worten geschmeichelt. Mir fühlte mich so leicht. Schwerlos. Als hätte ich keine Wurzeln und könnte schweben.

„Wovon hat dir denn meine Emee erzählt, bevor du so ausgerastet bist?“, wollte Vladimir wissen. „Von einer Bestie“, antwortete Vladimirs Mutter wortkarg. Ihre Lippen wurden zu schmalen Strichen. Ihre Augen verfinsterten sich. Ihr war sichtlich unwohl beim bloßen Aufflammen dieser Erinnerung. „Welche Bestie?“ musste Vladimir unbedingt wissen. „Der mongolische Todeswurm“, gab seine Mutter wiederum einsilbig und wenig bereitwillig Auskunft. Wie sich später herausstellen sollte, meinte sie mit Bestie aber gar nicht das Wesen, das ihr einst solche Angst eingeflößt hatte, sondern einen grausamen Vater und eine eifersüchtige Gemahlin. „Wirst du mir einmal davon erzählen?“, stocherte der Junge nach. „Ja, das werde ich. Aber nicht heute. Heute hat der Kraken hier seine Bühne. Möchtest du die Geschichte zu Ende hören? Sehr viel schlimmer wird sie nicht werden“, versicherte sie.

Vladimir nahm sich einen Moment. Er überlegte kurz und nickte dann entschlossen. Als die Mutter des Jungen den Faden der Geschichte wieder vorsichtig aufnahm, beschrieb sie sehr sachlich das gerade Geschehene. An einer gewissen Stelle nahm sogar den zur Seite gelegten Foliant wieder zur Hand. Obwohl sie peinlich genau darauf achtete, die Szenen nicht mit Geräuschen oder Gesten einzurahmen, gefror mir doch das Wasser Wurzeln und Ästen. Ich konnte nicht verhindern, dass die zugehörigen Schreckensbilder in mir aufstiegen:

Etwas zerbarst und splitterte gleichzeitig. Das etwas war Ivan. Seine Knochen wurden vom kräftigen Kiefer des Kraken einfach zermalmt. Die Mannschaft, die das Grauen aus nächster Nähe mit ansehen musste, erstarrte kreidebleich. Keiner wagte es, sich zu bewegen oder nur einen Laut von sich zu geben. Am allerwenigsten diejenigen, die sich augenblicklich in der Gewalt des Kraken befanden.

Drei der Unglücklichen baumelten noch an den Tentakeln des offensichtlich doch hungrigen Oktopusses. Stanislav, einer der möglicherweise nächsten Appetithappen, zweifelte allerdings am Hunger des Kraken. Als einziger hatte er den gerade Verspeisten etwas näher gekannt. Ivan, der spurlos im Maul des Kraken verschwunden war, hatte sich stets schweigsam gegeben. Sprach er doch einmal, so hatten alle den Eindruck, er risse das Wort an sich. Einmal entfacht, war sein Redeschwall kaum mehr zu stoppen. Meist rühmte er sich dann Heldentaten, die sicherlich nicht der Wahrheit entsprachen. Zuhörern erschienen seine Worte oft wie Rechtfertigungen oder zur Gewissensberuhigung abgesondert. Ivans Äußerungen wirkten dabei oft prahlerisch und selbstverliebt. Stanislav wusste, dass sein Kamerad zu Lebzeiten wahrhaftig kein rechtschaffender Mann gewesen war. Er hatte Unglück über seine Sippe und auch eine Reihe anderer Menschen gebracht. Sein Bruder saß wahrscheinlich heute noch für eine seiner Taten unschuldig hinter Gittern.

„Vielleicht kennt der Kraken Gerechtigkeit“, dachte Stanislav bei sich. Inständig hoffte er, dass die großen wachen Augen des Untiers sehen konnten, dass sein Herz rein war und am rechten Fleck schlug. Tatsächlich beäugte der Oktopus den in Todesangst überlegenden Matrosen als nächsten. Wenig später befand er auch Stanislav als nicht verschlingenswert. So gelangte auch er unbeschadet zurück auf die Professor Gül.

Der in Tränen der Erleichterung ausbrechende Mann hatte der Liebe wegen seine Zelte in der großen Stadt abgebrochen. Bis nach Kuryk war er seiner Barbara gefolgt, um sie zu heiraten. Der Frischvermählte fand allerdings in der Fremde keine Arbeit. Als letzte Rettung, seine Pflicht als Ehemann zu tun und für das Auskommen des jungen Paares zu sorgen, heuerte er auf der Professor Gül an. Die traute Zweisamkeit dauerte nicht lange. Kurz nach der Hochzeit war der Kahn ausgelaufen und nun brachte Stanislav die Sehnsucht nach seiner Liebsten fast um. Täglich entstanden glühende Briefe aus seiner Hand, die bisher unverschickt geblieben waren. Wie glücklich war er nun, dass nicht nur diese Zeilen die Frau seines Herzens erreichen sollten, sondern auch er unversehrt zu ihr zurückkehren würde. Knapp nur war er dem Tod auf hoher See entronnen. Doch der Kraken war gnädig mit Stanislav gewesen. Das Schicksal hatte eine erste Seereise unter einen guten Stern gestellt und sein Leben verschont. Dafür dankte er allen himmlischen Mächten.

Auch der schüchterne, in sich gekehrte Alexej fand sich bald vereint mit seinen Kameraden zurück an Deck des wieder seetüchtigen Kahns. Ihm hatte Reue das Leben gerettet. Als er im umtriebigen Taraz gelebt hatte, war er ein echter Haudegen gewesen. Dann hatte sich ein tragischer Unfall am Ufer des Talas ereignet. Sein engster Freund war nach einer durchzechten Nacht und einer Auseinandersetzung mit einem Unbekannten in den Fluss gefallen und ertrunken. Alexej hat zwar den Streit zwischen den beiden Streithähnen geschlichtet, sich danach aber nicht mehr um den weiteren Verlauf des Zusammentreffens gekümmert. Im Morgengrauen ging er allein nach Hause und erfuhr erst spät, dass es sich bei dem von Fischern tot aus dem Wasser geborgenen Mann um seinen Blutsbruder handelte.

Seither hatte sich der mittlerweile nicht mehr ganz so junge Mann schuldig gefühlt. Dass Timur, der fast wie sein Zwilling gewesen war, so grausam und sinnlos gestorben war, hatte er als eigenes Versagen angesehen. Alexej kreidete sich an, den Ernst der Lage unterschätzt zu haben und so seinen Freund nicht beigestanden hatte. Unentwegt fragte er sich, wie er einen Betrunkenen nur seinem Schicksal hatte überlassen können. Vladimir unterbrach seine Mutter. Er war erregt und machte seinem Unmut Luft: „Wenn einer sternhagelvoll ins Wasser fällt, dann ist doch kein anderer schuld!“ Vorsichtig versuchte seine Mutter den Zorn ihres Sohnes abzumildern. Sie wusste, wie impulsiv er auf das Thema Alkohol reagierte, und entgegnete: „Nein, du hast recht, Alexej war nicht verantwortlich dafür, dass sein Freund ertrunken war. Aber den Tod hat Timur trotzdem nicht verdient, oder?“ Vladimir schüttelte den Kopf, ballte aber dennoch seine Hand zur Faust. „Warum nur müssen sich Leute überhaupt besaufen?“, rief er mit funkelnden Augen. Dann ließ er abrupt locker. Nun fühlte er sich schuldig. Seine Mutter mochte offenbar nicht, wenn er so redete. Kleinlaut setzte der Junge nach: „Ich weiß, Mumi, darüber haben wir schon so oft gesprochen. Erzähl bitte weiter“.

Und das tat seine Mutter und streichelte ihrem Sohn dabei über den verwirrten Kopf, indem so viel vorging, was ich gerade nicht verstand. Die Frau erklärte, dass Alexej der Meinung war, er hätte ein Verbrechen begangen. Er wollte Buße dafür tun und änderte sein Leben von einem Moment auf den anderen grundlegend. Es zog ihn weg aus seinem gewohnten Umfeld. Bereit alles zu verlieren, entschied er sich für eine Zukunft auf dem Meer und machte seinem Namen – er bedeutet Beschützer bzw. Bewahrer – nun alle Ehre. Der Mann entwickelte einen ausgeprägten Gerechtigkeitssinn und stand für seine Schiffskollegen ein, auch wenn dies unbequem für ihn werden konnte. Auch Ranghöheren gegenüber setzte er sich für Schwache und Benachteiligte ein. Dank ihm gab es selten Streit auf der Professor Gül. Und falls doch schlichtete er zwischen den erhitzten Gemütern mit Umsicht und Weitblick.

Zuletzt vervollständigte der Jüngste die nun nur noch aus dreizehn Männern bestehende Mannschaft. „Wahrscheinlich war er der Besonnenste und Tapferste unter allen Matrosen“, verkündete Vladimirs Mutter voller Leidenschaft. Sie erzählte weiter, dass der junge Mann ebenso unversehrt auf sein geliebtes Schiff zurückkehrte wie schon seine vorher vom Kraken sachte abgesetzten Kameraden. Bevor sich der Achtfüßler entfernte, tosend in einem Strudel von aufgewühltem Wasser verschwand, fixierte er den kaum Erwachsenen lange und eindringlich. Ein kaum für die anderen wahrnehmbares Kopfnicken folgte. Schon im Abtauchen begriffen, knuffte er den Verschonten zum Abschied in die Wange. Ein besonderer Ausdruck spielte um sein in diesem Moment nicht furchteinflößend wirkendes Maul. Plötzliches Verstehen keimte in dem jungen Mann auf.

Der Oktopus und er waren sich nicht zum ersten Mal begegnet. Als der Matrose noch an dessen Tentakeln baumelte, war ihm zwar der helle Umriss in Muschelform auf der Stirn des Angreifers aufgefallen, doch zog er zu diesem markerschütternden Zeitpunkt noch keinerlei Schlüsse. Nun fiel es ihm wie Schuppen von den Augen. Als Neunjähriger hatte er sich fast einen Sommer lang mit seiner Familie der Küste rund um Aqtau aufgehalten. Er konnte nicht genug davon bekommen, am teils felsigen, teils sandigen Strand nach Zebramuscheln Ausschau zu halten, sie zu sammeln und zu vergleichen. Ihre nie identischen Zickzackmuster faszinierten ihn einfach.

Eines Tages machte der Junge eine Bekanntschaft, die er nie vergessen sollte. Wie immer ging er seiner Lieblingsbeschäftigung nach. Er watete im knietiefen Wasser und drehte alle Steine um, die sich auch nur ansatzweise bewegen ließen. An diesem besonderen Tag machte er sich erstmals an den Booten, die am Kai vertäut waren, zu schaffen. Denn hier setzte sich, wie er von einem Fischer erfahren hatte, seine bevorzugte Beute nur allzu gern fest.

Plötzlich schnellte ein undefinierbares Gebilde aus dem Wasser. Es ähnelte einem mit Wasser gefüllten Ballon. Riesige Augen fixierten den erschrockenen Neunjährigen. Ihm standen die Haare zu Berge. Gänsehaut machte sich auf seinem ganzen Körper breit. Zwar aufgewühlt hielt er dem Blick des seltsamen Wesens dennoch stand. Ein neugieriges Augenpaar schaute ihn interessiert an. Gleichzeitig zeigte sich im Gesicht des Ungeheuers aber ebensolches Erschrecken, wie dies den Jungen anfänglich befallen hatte. Und da war noch etwas anderes: Schmerz und Verzweiflung. Der monströse Kopf des Besitzers dieser ausdrucksstarken Augen war übersäht von Zebramuscheln. Wie ein eigenständiger Organismus rückten die anhänglichen Schalentiere dem unglücklichen Geschöpf zu Leibe.

Ohne nachzudenken, nur eines im Sinn, nämlich die arme Kreatur von diesem Befall so schnell wie nur möglich zu befreien, schnappte sich der Muschelsammler eine Muschel nach der anderen und sammelte alle in seinen Eimer. Eine einzige konnte er nicht entfernen. Jene zwischen den Augen beanspruchte ihren Platz so sehr, hielt an ihrem Revier standhaft fest, dass der engagierte Bursche nach einigen zaghaften Versuchen und einem letzten beherzteren Ansatz schlussendlich aufgab. Doch damit nicht genug. Weshalb das Wesen überhaupt in diese missliche Lage gekommen war und weshalb in seinen Augen immer noch kummervoller Schmerz lag, wurde dem Jungen erst jetzt klar. Eine Tentakel hatte sich im offensichtlich nur halbherzig eingeholten Netz so heikel verfangen, dass ein Saugnapf bereits blutig gescheuert und fast abgetrennt war.

Der unfreiwillige Beifahrer war wohl draußen auf dem Meer in die Fänge des engmaschigen Wurfnetzes geraten und bis hierhin mitgeschleppt worden. So zumindest erklärte sich der Junge später das Geschehene. Wie er nämlich in seinem Biologiebuch herausfand, halten sich die wirbellosen Tiere normalerweise vom Ufer fern und sind eigentlich in der Tiefsee zu Hause. Auch lernte er erst nach diesem Vorfall, dass er sich auf Tuchfühlung mit einem Riesenkraken befunden hatte. Instinktiv tat der Junge einfach das, was er auch mit einem anderen verletzten Tier oder Menschen getan hätte. Er redete dem Wesen, das ihn zwar hilfesuchend, jedoch mit vor Furcht geweiteten Augen fixierte, gut zu. Sanft strich er ihm über den übergroßen, glitschigen Kopf. Durch längeren Blickkontakt holte der Junge so die Zustimmung seines Gegenübers ein, dass er nun versuchen wollte, die quälende Schlinge zu lösen.

Um das verängstigte Tier nicht noch mehr zu erschrecken, zog der Neunjährige mit einer langsamen beschwichtigenden Bewegung das locker in seiner Badehose steckende Messer heraus. Schon so manche zu fest am Stein haftende Zebramuschel hatte der Junge damit bereits kinderleicht gelöst. So dass der Kraken es sehen konnte, entfernte er vorsichtig die Schutzhülle von der Schneide. In diesem Moment war es für beide besonders wichtig, Vertrauen zu fassen. Deshalb durchteilte der Junge die rautenförmigen Maschen erst an Stellen, die genug Sicherheitsabstand vom verletzten Fangarm ließen. Je weiter er sich der schmerzverursachenden Netzfalle näherte, desto öfter suchte er Blickkontakt zum ihn beobachtenden Oktopus. Schließlich war er nur noch eine Masche weit von dort entfernt, wo die Spannung um die gefangene Tentakel am größten war.

Der Junge hielt inne. Obwohl der Kraken ruhig alles, was sein Retter bisher zu seiner Befreiung getan hatte, aufmerksam verfolgte, hatte er sich noch nicht vollends in dessen Hände begeben. Immer noch zerrte er am fachmännisch geknüpften Netz. Offenbar ignorierte er dabei, dass seine Gegenwehr unfreiwillig dazu beitrug, die Knoten in jede Fadenrichtung noch fester um seinen Fangarm zu spannen. Behutsam kam der Junge nun mit seiner Handfläche der blutenden Gliedmaße näher. Mit viel Feingefühl schloss er seinen Griff darum. Vorsichtig hob er den geschundenen Körperteil aus dem Wasser und streichelte sanft eine unverletzte Stelle. Der Junge konnte spüren, wie sich das Wesen zuerst weiterhin verkrampfte. Es war im Begriff, Widerstand zu leisten. Im nächsten Moment entschloss der Kraken sich jedoch anders. Ganz einfach ließ es los. Ein milde gestimmtes Augenpaar sah den Jungen an. Dann neigte das schlaue Geschöpf seinen massigen Schädel leicht nach vorne. Auch sein Retter nickte zustimmend.

Der Zug auf die Netzknüpfung nahm augenblicklich ab. Dennoch war nun von dem Jungen Fingerspitzengefühl gefordert. Besonnen begann er, die Schlinge, die immer noch unerbittlich eng um den Fangarm des Verletzten lag, an einem Knoten einzuritzen. Durch gezielten Einsatz des Messers und mit ruhiger Hand trennte er Faden um Faden langsam auf. Bange Sekunden verstrichen. Um keinen Preis wollte der Neunjährige riskieren, dem armen Tier durch sein unvorsichtiges Tun noch mehr Schmerz zuzufügen. Noch ehe er aber das Fleisch des Kraken berühren konnte, löste sich der letzte widerspenstige Faden. Der gerade noch Gefangene war plötzlich für immer frei. Hörbar sogen zwei Neunjährige die Luft ein. Zum einen „mein Vladimir“ im Hier und Jetzt, zum anderen der Junge in der Geschichte. Ersterer hatte so gebannt wie nie zuvor den leisen Worten seiner Mutter gelauscht. Seine Augen waren dabei immer größer geworden und ähnelten nun sehr denen des verletzten Kraken. Letzterer war schon im Begriff, sich von der in seiner Hand pulsierenden Tentakel zu lösen. Doch dieses Mal war es der Oktopus, der nicht losließ, dankbar zudrückte und dem Blick des Jungen standhielt.

Zwischen den Augen seines Gegenübers krallte sich immer noch eine wohl besonders zähe Zebramuschelhälfte fest. Der Junge, der spürte, welches vertrauensvolle Band zwischen ihm und dem Kraken nun bestand, fasste sich ein Herz. Erneut hob er sein Messer und kam damit ganz allmählich dem Gesicht des nur erwartungsvoll und keineswegs mehr ängstlich dreinblickenden Wesens näher. Eine winzig kleine, aber gezielte Bewegung reichte, um die Muschel mit einem fast unhörbaren Platsch ins Wasser zu befördern. Nun nicht mehr lästig, blieb sie im Netz, das den Kraken so schmerzhaft an sich gebunden hatte, hängen.

Allerdings hatte sich das Schalentier zu lange und zu ungnädig auf der Stirn des Oktopusses festgesetzt, so dass sich sein Umriss darauf immer noch klar abzeichnete. Dem aus seiner misslichen Lage befreiten Wesen war nun eindeutig wohler. Der Junge sah Zufriedenheit in seinem Gesicht und für einen Augenblick meinte er sogar, ein Lächeln hutschte über dessen fremdartige Züge. Noch bevor er gedanklich einen Schritt weitergehen und überlegen konnte, wie der Fangarm des Meeresbewohners zu verarzten sei, knuffte der Kraken mit einer unverletzten Tentakel seinen Befreier in die Wange. Nur einen Augenblick später stieß das Tier sich ins Meer hinaus. Sein wuchtiger Schädel blieb noch eine Weile über Wasser. Der Junge sah diesem seltsamen und doch so wundervollen Wesen noch lange nach, als es schon längst im Ozean abgetaucht war.

Dieses Erlebnis war mehr als zwölf Jahre her. Und doch manifestierten sich in dem Matrosen alle Bilder und durchlebten Gefühle in Bruchteilen von Sekunden. Obwohl das außergewöhnliche Ereignis schon so viele Jahre zurücklag, empfand der zu einem mutigen Mann gewordene Junge von damals die Momente so plastisch, als wäre das Ganze erst gestern geschehen. Es bestand kein Zweifel. Die Größe des Umrisses auf der massigen Stirn des soeben abgetauchten Riesenkrakens hatte sich zwar verhundertfacht, doch waren sie identisch mit der Zebramuschel, die er als Neunjähriger von dort entfernt hatte. Warum er das so genau wusste? All die Jahre hatte er die diese Zeichnung verursachende Muschel bei sich getragen. Als er sie nun vom Hals nahm und betrachtete, fühlte er sich bestätigt: Es war der Kraken von damals.

Dicke Tränen der Rührung und der Erleichterung rannen dem von einem Freud aus alter Zeit Verschonten über das Gesicht. Währenddessen wurde er überschwänglich von jedem einzelnen Crewmitglied mit einem Rückenklopfer in Empfang genommen. In stillem Einklang mit sich und dem Meer nahm er wenig später seinen Ausguckposten auf dem Vordermast wieder ein. Dort fühlte er sich immer am wohlsten. Von jeher ein ruhiger Zeitgenosse teilte der junge Mann hoch oben auf der Professor Gül sein Glücksgefühl, einen alten Bekannten wiedergetroffen zu haben, allein mit dem Wind. Der Kahn wurde nun wieder von einer angenehmen Brise umschmeichelt und gewann schnell an Fahrt.

In so luftiger Höhe, allein mit seinen Gedanken und einem kühlen Lüftchen im Gesicht, fühlte sich der Matrose einfach unbeschreiblich frei. Überglücklich strahlte er an diesem Tag von einem Ohr zum anderen. Er machte sogar der Sonne Konkurrenz, die über das Schicksal der Professor Gül und seiner Mannschaft hell und klar wachte. Die gesamte Crew war ausgelassen. Alle sehnten festen Boden unter den Füssen herbei. Keiner konnte es erwarten, endlich an Land zu gehen, nicht länger mit seemüden Beinen die mal kleineren, mal größeren Wellen ausgleichen zu müssen. Neue Kräfte galt es zu schöpfen und die zerfetzten Segel zu reparieren. Am Abend war es dann soweit. Aus dem Ausguck ertönten endlich sehnsüchtig erwartete Worte und schallten über das ganze Deck. Freudig schrie der besonnenste und tapferste Matrose, dessen Name Vladimir war: „Land in Sicht! Land in Sicht!“ Und dann noch ein bisschen lauter: „Baku in Sicht!“

So schloss die Frau ihre Erzählung. Mit zum Trichter vor dem Mund geformten Händen strahlte sie sonnengleich ihren Sohn an. Der Junge schmiegte sich eng an sie und fragte gerührt: „Der Mann, der den Kraken als Junge gerettet hat, hieß so wie ich? Du hast recht, er war wirklich ein mutiger Matrose!“ Seine Mutter nickte bestätigend. „Ja, der besonnenste und tapferste von allen“, entgegnete sie und ergänzte: „So wie du, mein Wolodja!“ Liebevoll küsste die Frau ihren Sohn auf den Blondschopf. „Es ist schön so ein Vorbild im Märchen zu haben“, kam es dem Namensvetter unter meiner Krone über die Lippen. Schmunzelnd fügte er hinzu: „Auch wenn ich glaube, dass du diesen Vladimir erfunden hast.“ Vladimirs Mutter schwieg zuerst. Sie legte ihren Kopf schief. In solchen Augenblicken war sie einfach anbetungswürdig. Dann sagte sie mit schelmischem Unterton: „Naja, ein paar Kleinigkeiten hab ich vielleicht etwas angepasst.“

Vladimir strahlte über beide Ohren – wie der Matrose in der Geschichte, als er sein „Land in Sicht“ verkündete. Der Junge fühlte sich geschmeichelt. In meinen Augen völlig zu recht. Für mich war dieser Neunjährige ein Geschenk. Mutter und Sohn schienen in dem Augenblick, der ohne weitere Worte perfekt war, zu baden. „Verstehst du nun, was ich gemeint habe, als ich von der Intelligenz der Kraken gesprochen habe?“, setzte die Frau ein Weilchen später nach. „Ja, ich glaube schon“, gab Vladimir zurück.

Und auch ich zog meine Schlüsse. In mir regte sich eine längst vergessene Erinnerung an bessere Tage. Damals, vor der großen Flut, war mir nicht nur mein stummer Zwilling, der nun nicht mehr war, geblieben. Ich wusste, was Seite an Seite miteinander etwas durchstehen bedeutete. Besonders in einer Gemeinschaft ist Mitgefühl eine der größten Tugenden. Auch Fehler und unrühmliche Taten, wie sie sich der Matrose Alexej zugeschrieben hatte, waren nicht unentschuldbar. Sie als solche zu erkennen, sich zu ihnen zu bekennen und einen rechtschaffenden Weg einzuschlagen, das zeichnet Tapferkeit aus. Im Fall des Kraken schenkte Demut und die Fähigkeit zur Umkehr ein erfüllendes Leben. Doch es ist verwirkt, wenn ein Missetäter keine Reue zeigt und seinen Weg nicht ändert.

Erst nachdem die Sonne untergegangen war, verließen mich Vladimir und seine Mutter. Sie hatten die Zeit vergessen und nun mussten sie sich sputen, um in der kurzen Phase der Dämmerung den Weg zurück zum Loch im Zaun zu finden. Ich spürte, dass sie Mühe hatten, sich loszureißen, gerne noch bei mir bleiben wollten. Ihnen wie mir war ein ganz spezieller Tag geschenkt worden. Wie immer, wenn sie sich in meiner Nähe aufgehalten hatten, waren die beiden fröhlich, ausgeglichen und aktiv. Auch wenn sie manchmal eher gedrückt zu mir gekommen waren, brachte sie die Zeit bei mir auf andere Gedanken. Heute erschienen sie mir in besonders gelöster und entspannter Stimmung.

Obwohl mein Organismus noch nicht wirklich in die Puschen gekommen war, ich schmunzelte und bedankte mich im Stillen bei Vladimir, von dem mir diesen Ausdruck zugeflogen war, hatte ich heute eine phantastische Menge Geruchsmoleküle produziert. Ohne Blätter war das gar nicht so einfach. So kurz nach der Winterruhe konnte ich allein meine Rinde anstacheln, Terpene auszuschütten. Der dichte Nebel, der sich über den Nachmittag gebildet und so gut zur Geschichte mit dem Kraken gepasst hatte, hatte seinen Teil dazu beigetragen, um die Kräfte dieser Botenstoffe zu konzentrieren.

Trafen nämlich viele dieser auch für mein Wachstum wichtige Wirkstoffe auf Haut und Lunge trugen sie maßgeblich dazu bei, dass sogar weniger empfindsame Menschen sich von aller Last – Vladimirs Mutter hatte von Stress gesprochen – befreit fühlten. Mit Hilfe dieser Phytonzide, die mich insbesondere in der warmen Jahreszeit vor Bakterien, Insekten und Pilzen schützten, hatte ich in einem lange vergangenen Jahrhundert, an das ich mich im Moment nur schwer erinnerte, viel mit all meinen Mitbäumen kommuniziert. Das gehörte der Vergangenheit an. Denn egal, welche Signale ich aussendete, nie antworteten die Neuwurzler mir. So konnte ich auch nicht zu meinen Nachkommen durchdringen. Ich war überzeugt, dass ich viele hatte, doch wusste ich von keinem von ihnen.

Nur zu bewusst war mir hingegen, wie sehr ich heute mit Vladimir und seiner Mutter kommuniziert hatte. Meine Präsenz war für ihr Wohlbefinden verantwortlich. Ich fühlte mich bestätigt, dass ich selbst im ausklingenden Winter in der Lage war, den menschlichen Blutdruck zu senken, den Puls zu verlangsamen und die Konzentration des Cortisols im Blut – neuerlich offenbar als Stresshormon bekannt – deutlich zu reduzieren. Ich war stolz und ließ meine Zweige vor Freude knacken. So viel näher war ich den beiden Menschen gerückt, die mich zufällig im vergangenen Herbst entdeckt hatten. Lange hatten nur Säugetiere, Vögel und Insekten meine Nähe gesucht. Aber das war nicht dasselbe. Die menschliche Sprache hatte eine ganz eigene Melodie und die Ähnlichkeit, die meine Statur mit den aufrecht gehenden Wesen hatte, war unverkennbar. Und doch hatte ich das, was mir die beiden gaben, noch nie erhalten.

Es war längst nicht so, dass andere Menschen mich nicht als stillen Beobachter und Zuhörer geduldet hätten. Nein, diese Erlebnisse hatte ich durchaus und sie immer als schön und bereichernd empfunden. Was sich aber davon unterschied, war, dass Vladimir und seine Mutter mich bewusst und völlig selbstverständlich an ihrer Zweisamkeit hatten teilhaben lassen. Am meisten verblüffte mich, dass sie mich in meinem Bestreben, sichtbar zu werden, auf ganz natürliche Art wahrgenommen hatten. Mehr noch: Sie hatten mich miteinbezogen, als wäre ich einer von ihnen.

All das ging in mir vor, als sich die beiden anschickten, davonhasteten. Zum Abschied bedachten mich sowohl Vladimir als auch seine Mutter mit einer kräftigen Umarmung. Stumm versicherte mir jeder von ihnen auf seine ganz eigene Weise, dass sie bald wiederkommen würden. Ich war wie in einem schwindelig machenden Gefühlstaumel. In meinen Augen war mir heute die größte Ehre zu teil geworden, die ein Lebewesen einem anderen ausdrücken kann: Der Wille zur gemeinsamen Sprache.

An diesem milden Winterabend hatte ich noch eine Begegnung, die mich mit Glück und erneut auch Demut erfüllte. Eine abgemagerte Schneeleopardin und ihr Junges suchten meine Gesellschaft. Das war lange nicht geschehen. Für Menschen waren sie Geistwesen gleich, so nebelhaft und unauffällig verschmolzen sie mit ihrer Umgebung. Die scheuen, fast unsichtbaren Großkatzen stiegen selten auf unterhalb zweitausend Meter herab. So war es mir immer eine ganz besondere Freude, Vertreter dieser samtpfötigen Gattung leise unter meiner Krone zu begrüßen. Nur grenzenloser Hunger trieb die geschickten Jäger und zähen Überlebenskünstler in so tiefgelegene Gefilde. Ich hatte ihnen jedoch nichts zu bieten. So ausgelassen es vor nicht länger als einer Stunde noch unter meiner Krone zugegangen war, so trostlos war dieser Ort jetzt. Jegliches Leben um mich herum war wie ausgelöscht. Bald trollten sich Mutter und Tochter wieder und ich hoffe, das Beuteglück würde ihnen bald hold sein.

Noch lange hing ich an diesem milden Winterabend meinen Gedanken nach. Ich kreiste um jene, die für immer fort waren. Um die Meinigen, mit denen ich zuletzt so intensiv kommuniziert hatte, wie ich das heute erlebt hatte, und die mir die Flut entrissen hatte. Dort, wo sie einst gestanden hatten, klaffte eine tiefe Wunde. Ihr Platz war für immer unausgefüllt geblieben. Nie war etwas in der Erde oder in rund um meine Stammmitte nachgewachsen, was in der Lage gewesen wäre, diesen Verlust auszugleichen. Mein stummer Zwilling war ein zu magerer Ersatz gewesen, um mich darüber hinwegzutrösten, was ich verloren hatte und ich so sehr vermisste.

Zum ersten Mal seit mein enger Wurzelpartner den Weg allen Vergänglichen gegangen war und sich die Leere gänzlich in mir ausgebreitet hatte, ergriff mich ein Gefühl der Heimat. Endlich fühlte ich wieder Zugehörigkeit. Diese Familie berührte mich auf eine unverwechselbare Weise. Ich war tief bewegt, wie nah sich Mutter und Sohn waren. Es erstaunte mich und machte mich gleichzeitig glücklich, wie klug diese Frau war und welchen außergewöhnlich empfindsamen, wachen Jungen sie zu einem so kritischen und ehrlichen Menschen erzog. Und wie sehr ich Teil von all dem geworden war.

Obwohl noch so manche Tage vergingen, bis sich wieder Leben unter meiner Krone regen sollte, fühlte ich mich leicht, unbeschwert. Meine Einsamkeit war wie weggeblasen. Ein ungewohntes, fast vergessenes Gefühl, das ich zuerst nicht benennen konnte, durchflutete mich. Doch plötzlich überkam mich die natürliche Erkenntnis. Ich empfand etwas, das für immer verloren geglaubt hatte. Ungefragt und ohne mein Zutun breitete sich ein neues Bewusstsein in mir aus. Durch Zauberhand formte es sich zu einem Namen: Liebe.


 

Mai 1991

2. Frühlinghafter Reigen

Da war ich wieder. Nach dem winterlichen Dahindämmern, strotzte ich nur so vor neuer Lebensenergie und Tatendrang. Ich war ein stolzer wilder Apfelbaum. Ein Apfelbaum in Zentralasien. In der Sowjetunion. Genauer in Kasachstan. Noch genauer in der Region Alma Ata. Unterhalb der ewigen Schneegrenze des schier unüberwindlichen Tien Shan Gebirges. Von all dem wusste und vor allem spürte ich mittlerweile ein großes Bisschen mehr. Obwohl ich nur ein Apfelbaum war. Ein Apfelbaum unter einer Million anderer Apfelbäume.

Sie waren lange nicht bei mir gewesen. Vladimir und seine Mutter. Meine beiden Freunde. Meine Vertrauten. Dieser aufgeweckte Junge und diese blitzgescheite Frau. Die zwei hatten mir in dem halben Jahr, in dem wir nun schon so manche Stunden miteinander verbracht hatten, schon so viel Abwechslung in meinem festverwurzelten Leben geschenkt. Durch das Auftauchen dieser wundervollen Menschen und ihre Wertschätzung war meine fast stoische Abgeklärtheit – vor einiger Zeit ich hätte ich sie noch Todessehnsucht genannt – ziemlich ins Wanken geraten. Unsicher bewegte ich mich auf gefühlt unerforschtem Terrain. Aber nicht nur in mir war alles im Umbruch, alles in Bewegung. Mit Vladimir und seiner Mutter durfte ich auf wundersame Reisen gehen. Sie ließen mich an ihrer Welt teilhaben. All diese Erfahrungen waren gleichermaßen fremd und aufregend für mich, obwohl ich in meinen vierhundert Lebensjahren bereits so einiges erlebt und erfahren hatte, fühlte ich mich ertappt, wie wenig ich doch wusste und in letzter Zeit gespürt hatte.

Seit vielen Jahrzehnten war mir der Winter durch die Besuche der kleinen Familie nicht mehr so kurzweilig vorgekommen. Ich versuchte, mich daran zu erinnern, wann mir die kalte Jahreszeit zum ersten Mal nicht als endlos erschienen war. Von jeher hatte mich das Gefühl der nie enden wollenden Eintönigkeit befallen. Auch schon als ganz junger Apfelbaum waren mir die dunklen Monate viel zu ruhig gewesen. Der Frost machte mir wenig aus. Was mir einfach fehlte, wie die Luft zum Atmen, war das Leben mit all seiner Kraft und Vielfalt. Damals schon empfand ich das Ende alles Seins als besonders anstrengend. Diese tiefe Leere, die mir zuweilen sogar sinnlos erschien, obwohl mir sehr wohl bewusst war, wie wichtig sie war. Nähe fehlte mir. Verbundenheit. Dass mich etwas berührte, ob physisch oder seelisch. Das Wissen um meinen stummen Zwilling änderte nichts. Ohne wirkliche Gesellschaft – und waren es nur meine Blätter, um die es summte und brummte – war ich nur eines: Traurig.

Sobald sich Tiere in meiner Umgebung aufhielten, packte mich Frohsinn. Mehr als alles andere, waren sie stets in der Lage, mein Warten auf den Frühling zu verkürzen. In ihrem Beisein verflog die Zeit geradezu. Wenige Tage vor dem ersten Schneefall in diesem einen Jahr, das mir gerade so lebhaft in den Sinn kam, waren zwei plüschige Fellknäuel unter meiner schon fast kahlen Krone aufgetaucht. Dass sie sich bei mir häuslich einrichten, sich vermehren und mir lieb und teuer werden würden, davon ahnte ich zu diesem Zeitpunkt noch nichts. Zuerst rochen sie mit ihren feinen Schnurrbarthärchen neugierig an mir. Dann rieben sie ihre seidigen Körper an meinem Stamm. Ein mich von oben bis unten elektrisierender Schauer suchte sich seinen Weg bis in die letzten freudlosen Zweigenden bis hinab zu meinen erkaltenden Wurzeln.

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